Milena, 57 Jahre, Sozialpädagogin aus dem Ruhrgebiet, Mutter dreier studierender Kinder, Hausgemeinschaftlerin

Ein Gegenstand, der in der Corona-Zeit für mich besondere Bedeutung gewonnen hat…

Vor ungefähr zwei Jahren überraschte mich meine Arbeitskollegin Edith im Büro mit einem Paket und der Frage, ob ich Interesse an dessen Inhalt hätte. Sie öffnete es und darin lag ein Paar funkelnagelneuer Wanderschuhe. „Meine Freundin will sie loswerden“, sagte Edith, „und da habe ich an Dich gedacht, dass Du sie vielleicht gebrauchen könntest. Wenn du magst, probier sie mal an.“ Sie hielt mir die Schuhe hin, erklärte zunächst fachmännisch deren Qualität und Vorzüge und fügte hinzu, dass es ein Fehlkauf gewesen und die Umtauschfrist längst verstrichen sei.

Ich bin zwar nicht die geborene Wandersfrau, aber ein gutes, robustes Paar Wanderschuhe gab es nicht in meiner bescheidenen Schuhsammlung. Ich probierte sie an. Sie passten wie angegossen und ich staunte wie leicht sie mir am Fuß waren. Spontan sagte ich Ja zu dieser unverhofften Gabe, trug das schmucke Paar nach Hause. Dort verschwand es in der Kammer und blieb unbeachtet.
Erst als ich meinen Umzug plante und mich ans Aussortieren begab, fielen die Schuhe mir wieder in die Hände. Das war im Januar 2020. Ich ahnte noch nichts von einer nahenden Pandemie, ausgelöst durch ein Virus, dessen Name bald schon täglich die Nachrichten beherrschen würde, unsere Köpfe beschäftigen und unser soziales und seelisches Leben auf unvorhersehbare Weise umkrempeln würde…genauso wenig wusste ich, dass es eine neue Zeitrechnung geben würde, dass wir Erzählungen mit den Worten „Vor Corona“, „Seit Corona“, „Vor dem 1. Lockdown“, „Vor dem 2. Lockdown“ usw. einleiten würden.
Ich packte die Schuhe ein und dachte: „Euch werde ich bestimmt beizeiten mal gebrauchen.“

Im März zogen wir um, zwei Wochen später wurde der erste Lockdown verkündet.
Es war schwer vorstellbar, nicht weiter Vorort in der Beratungsstelle zu arbeiten, aber bald ordnete die Geschäftsführung für die Mitarbeiter:innen Home Office an.
Ich gewöhnte mich daran, dass ich mein Arbeitsleben plötzlich als Solistin in den eigenen vier Wänden verbrachte, gewöhnte mich an Teamsitzungen in Form von Telefonkonferenzen und später Zoomsitzungen.
Liebend gern ließ ich – Pendlerin zwischen den Städten des Ruhrgebiets – das Auto stehen, unverhofft befreit von den täglichen Fahrerei, die immer wieder Stau auf der Autobahn mit sich gebracht hatte.
Auch lernte ich, dass Beratungen per Telefon sehr wohl gut möglich sind, dass sie ihre ganz eigene Qualität haben oder entwickeln können.
Dennoch, gefühlt verbrachte ich nun die Tage auf meinem Küchenstuhl sitzend am PC, telefonierte mich durch die Stunden….und bewegte mich in erster Linie innerlich.
Mir ging auf, dass die Art, wie ich meine Tage strukturierte, oder besser gesagt, wie ich sie nicht bewusst strukturierte, mir gar nicht gut tat. Ich hatte versäumt, Pausen einzuplanen, trug das Diensthandy ständig mit mir herum und war so fast ununterbrochen erreichbar.
Es tat mir wirklich nicht gut. Ich brauchte Pausen und Bewegung.
Klar, der Yogakurs fand nicht mehr statt. Kein Schwimmbad öffnete mir seine Pforten. Besuche Zuhause sollten so wenig wie möglich stattfinden, der Sicherheit wegen.
So war es nicht gut

Ich brauchte einen Hilfeplan!
Meine Freundin Anna und ich – den Göttern sei Dank, dass es sie gibt in meinem Leben und dass sie um die Ecke wohnt! – intensivierten unsere gemeinsamen Spaziergänge und wandelten sie in regelmäßige Treffen an jedem zweiten/dritten Tag um. Wir trafen uns immer an der kleinen Brücke, um von dort direkt zuerst am Feld entlang und dann durch den Wald zu laufen.
Jetzt war die Zeit meiner Wanderschuhe gekommen, sie hielten tatsächlich Einzug in mein Leben. Ich nahm sie nun nicht mehr nur in die Hand, um sie gleich wieder verschwinden zu lassen, sondern ließ meine Füße in ihnen Platz nehmen, schnürte sie zu und leichten Schuhs, leichten Fußes ging ich los, in Vorfreude auf Anna, und, weil ich was Gutes für mich tat.

Was das Laufen für mich war?
Zwischenstopp im Arbeitsablauf, rauskommen, den Kopf frei pusten lassen und auf andere Gedanken kommen oder auch mal auf gar keine, meine Muskeln und Knochen in Bewegung spüren, durchatmen, Anna treffen, mich mit ihr austauschen von Angesicht zu Angesicht, so anknüpfend an normale schöne Dinge, die uns auch vor Corona schon gut getan hatten.
Wie freute ich mich jedes Mal, wenn ich sie an der Brücke stehen sah, wo sie auf mich wartete. Den anfänglichen Abstand gaben wir schnell auf, begrüßten uns einfach -wie vor der Pandemie- mit einer Umarmung, jetzt bewusstere, kostbare Geste, mehr als eine alltägliche Begrüßungsformel.

Während der Coronazeit kultivierten wir das gemeinsame Laufen, das inzwischen eine liebgewonnene Tradition ist. Manchmal erweiterte Annas Mann Hannes unser Duo und wir liefen zu dritt. Die Gespräche mit ihnen unterwegs belebten und nährten mich, und wie wunderbar: sie fanden ohne Mund-Nasenschutz statt, einfach und unkompliziert, und ohne Corona als Gesprächsmittelpunkt. Wir machten uns gegenseitig darauf aufmerksam, wenn einem von uns etwas am Wegesrand auffiel.
Wir hielten inne, um die Weite, die Silhouetten der Bäume, den Flug eines Vogels oder die Färbung des Himmels zu betrachten. Dann brauchte es keine Worte.
Das war im Sommer und Herbst letzten Jahres.

Mit dem zweiten Lockdown im Winter wurde mir das Leben in diesen grauen, kalten Pandemietagen düsterer. Dass die Vorfreude auf das Familientreffen zu Weihnachten in sich zusammenfiel, als klar wurde, dass es kein Treffen mit allen geben würde, tat sein übriges, um die Suche nach einem Silberstreif am Horizont zu erschweren.

Wie lange es morgens brauchte, bis es hell wurde!
Manchmal hatte ich den Eindruck, als habe die Sonne uns hier auf der Nordhalbkugel vergessen. Ich merkte, dass ich ein Mittel gegen seelische Erschöpfung brauchte, und etwas, was mir den Einstieg in den Tag erleichtern würde. Mir fehlte so vieles, ratlos überlegte ich: „Was denn genau?“, so viele kleine, unscheinbare Alltagsdinge und Begegnungen, die weggefallen waren. Ich ging dem nach.
Ein zweites Mal war ein persönlicher Hilfeplan fällig. Was tun?
Just in dieser Situation lieh mir meine Nachbarin ein „Lauf-Buch“. Die Lektüre der darin versammelten Geschichten rund um das Gehen, Flanieren und Schlendern, ums Joggen und Rennen brachte mich auf die Idee!… und ich probierte es von einem Tag auf den anderen aus. Wenn sich die Dunkelheit soeben daranmachte der Dämmerung den Himmel zu überlassen, stand ich auf, zog mich zügig an und machte mich ohne Umschweife auf den Weg.

Das war die Idee: die Tage mit dem Sonnenaufgang zu beginnen.
Diese Morgenstunde, während der kaum jemand unterwegs war, war nun meine Stunde.
Nass war es oft, die Erde aufgeweicht, die Waldwege schlammig, Pfützen, zu groß, um drüber zu springen, also schnell durchhüpfen oder durchwaten. Meine Schuhe erwiesen sich als unbeeindruckbar treue Begleiter. In ihnen blieben meine Füße trocken und sie gaben Halt bei jedem Schritt und Tritt.

Niemals hätte ich mir das vor einem Jahr vorstellen können!
War ich das, die nun frühmorgens loslief, statt wie gewohnt um jede Minute mehr im warmen, kuscheligen Bett mit dem Wecker zu feilschen ? Aber da war kein Widerstand, sondern nur das Einverständnis in mir, das genau jetzt zu tun und nichts anderes.
Ich lief meist die gleiche Strecke, um an einer bestimmten Stelle des Feldweges den Sonnenaufgang zu sehen und manchmal nur das Hellerwerden des Himmels.
Jeder Morgen unterschied sich vom vorherigen. Die Luft, der Wind fühlten sich jedes Mal anders an. Wetterfest eingepackt, spürte ich Kälte, Kühle oder Wärme an meinen Händen, den Wangen und an der Nasenspitze. Je nachdem, ob und wie viel Regen gefallen war, lief es sich mit leichterem oder schwerfälligerem Schritt.

Jeder Tag ein anderer Himmel.
An einem verhangenen, wolkenreichen Morgenhimmel zählte ich seine verschiedenen Grautöne und schloss Frieden mit den grauen Tagen, denen ich nun ihre eigene Schönheit abgewinnen konnte.
Meine Wanderschühchen wurden in diesem Winter arg strapaziert und verloren vorübergehend an Ansehnlichkeit, verdreckt von Schlamm waren sie und versehen mit fast unkenntlichen Profilen,die mit Erde gefüllt waren.
Brav zog ich sie deshalb vor der Haustüre aus, tappte mit ihnen in der Hand auf Wollsocken durchs Treppenhaus, stellte sie vor der Wohnungstür auf der vorsorglich ausgebreiteten Zeitung ab, und dann… hinein in die warmen Puschen, hinein in die warme Stube, sehr zufrieden mit mir und frohgelaunt begann ich meinen Arbeitstag.