Katharina,62, lebt allein, Liebste eines wunderbaren Mannes, Freundin von Freundinnen, Poesietherapeutin, Weltreisende, Chorsängerin, wohnhaft in Berlin

Familie oder Freunde

Familie oder Freunde? Wer ist wichtiger in meinem Leben?

In meiner Kindheit und gewiss bis in meine frühe Jugend hinein war meine Familie mein Kosmos. Ich ging nicht in einen Kindergarten, sondern verbrachte den ganzen Tag mit und bei meiner Mutter. Meine sechs Jahre ältere Schwester ging schon in die Schule. Im Sommer kamen manchmal Kinder, meist Jungs, aus unserer Straße zum Spielen draußen. Im Winter saß ich alleine auf dem Sofa in der Wohnküche und spielte mit Lego oder puzzlete.

Gab es eine bewusste Entscheidung weg von der Familie hin zu Freunden? Ich denke, der Prozess war schleichend. Als ich etwa 14 war, nahm ich abends an Aktivitäten außerhalb meiner Familie teil. Entweder „lernte ich etwas“ wie Schreibmaschine schreiben oder Standard-Tanzen oder ich ging im Dorf in eine katholische Jugendgruppe, die CAJ. Ich ging seit einigen Jahren ins Gymnasium in der Kreisstadt. Hier hatte sich eine Freundschaft zu einer „besten Freundin“ entwickelt. Dorothee teilte meine Interessen und wir übernachteten manchmal beieinander.

Nahmen meine Eltern Einfluss auf meine Freundschaften? Meine Eltern wollten immer wissen, mit wem ich unterwegs war. Solange meine Kontakte ausschließlich im Dorf stattfanden, kannten meine Eltern meine Freunde und deren Eltern ohnehin. Meine Eltern waren ziemlich streng. Sie haben mir nie verboten, mit bestimmten Menschen Kontakt zu haben. Aber es gab Familien im Dorf, „Gesocks“, und es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein anständiges Mädchen sich besser von ihnen fernhalten sollte.

Wie entwickelte sich die Situation, als Jungen ins Spiel kamen? Die Jugendzeit meiner Eltern war  in die Kriegsjahre gefallen. Besonders meine Mutter sagte häufig: „Ich habe keine Jugend gehabt. Du sollst deine Jugend genießen können.“ Die erste Party, zu der ich ging, fand bei meinem Cousin statt. Da hatten meine Eltern wenig Bedenken. Aber natürlich hatte ich Verhaltensregeln mitbekommen. „Kommt min nieh mett enn Päckscken noar Hüss!“ „Komm mir nicht mit einem Päckchen nach Haus!“ Sprich: „Werde bloß nicht schwanger!“ Die wichtigste Doktrin in unserer katholischen Familie. Der Junge, der mich zur zweiten Party einlud, stellte sich bei meinen Eltern vor und fragte um Erlaubnis. Sie befanden ihn für anständig und so durfte ich gehen. In den Folgejahren brachte mein Vater mich zweimal in der Woche um 19 Uhr abends zur Disco oder zur Kirmes in den umliegenden Dörfern und um 22 Uhr holte er mich wieder ab. Ich musste pünktlich sein und vor allem durfte ich meine schulischen Pflichten nicht verletzen. Da ich eine sehr gute Schülerin war, stellte das kein Problem dar und so verbrachte ich viele Abende in meiner Jugend tanzend. Noch heute geht es mir so, dass wenn ich „Dancing queen“ höre, ich mich fühle wie 17 und meine Beine anfangen zu zucken.

Welche Rolle spielte meine Schwester in Bezug das Thema Freundschaften mit Jungen? Meine Schwester heiratete, als sie 19 war. Weil es in unserem katholischen Dorf nicht möglich war, unverheiratet eine längerfristige intime Beziehung mit einem Jungen zu haben. Das war 1972. Sie zog also aus, als ich 13 oder 14 war, d. h. sie hat mich eigentlich nach dieser Zeit nie richtig kennengelernt. Als es dann dazu kam, dass ich meine ersten Freundschaften mit Jungen hatte, unterstützte sie mich nicht, sondern stichelte im Gegenteil und schürte die Bedenken meiner Eltern. Ich glaube, sie neidete mir die Freiheit und Unabhängigkeit, die sie hatte aufgeben müssen.

Wie entwickelte sich die Polarität Familie – Freunde als ich auszog? Mit 19 zog ich zum Studium nach Berlin. Das kleine katholische Dorf mit seinem in vieler Weise begrenzten Horizont war mir zu eng geworden. Der erste Freund, den ich in Berlin hatte, entsprach in keiner Weise den Vorstellungen meiner Eltern. Er war unter anderem in der Kommunistischen Partei. Meine Eltern waren entsetzt, als sie ihn kennenlernten und drängten auf Beendigung der Beziehung. Aber nun ließ ich mir nicht mehr reinreden. Es brauchte eine Zeit, bis ich alleine herausfand, dass er nicht der Richtige für mich war.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten lebte ich nach dem Motto „Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht“. Ich fühlte mich meiner Familie nicht sehr nah, besuchte sie zwar regelmäßig, tat dies aber eher aus Pflichtgefühl.

Dies änderte sich erst, als sie und ich älter wurden. Als mein Vater starb, war ich 40. Fortan entwickelte sich eine sehr innige Beziehung zu meiner Mutter. Die zu meiner Schwester blieb frostig und distanziert. Im letzten Jahr ist meine Mutter gestorben. In den vergangenen Jahren war ich alle sechs bis acht Wochen für eine Woche bei ihr. Zur Trauerfeier für unsere Mutter ist meine Schwester schon nicht mehr erschienen. Sehr wohl aber hat sie mir eine Woche vorher noch einen Anwalt auf den Hals gehetzt, der mir gleich mit Klage drohte. Es folgte ein unschöner Erbstreit, der im Oktober mit anwaltlicher Hilfe beendet wurde. Seitdem ist der Kontakt zu meiner Schwester und leider auch zu ihrem Sohn, meinem Patensohn, zu dem ich immer ein enges und herzliches Verhältnis hatte, abgebrochen. Zum Glück gibt es zwei Cousinen in meiner Familie, zu denen ich ein sehr gutes und enges Verhältnis habe. Eine habe ich zu meiner „Herzensschwester“ erkoren, der Schwester, die ich in meiner leiblichen nie hatte.

Familie oder Freunde? Wer ist wichtiger in meinem Leben? Heute weiß ich, ich brauche beides und freue mich, dass ich mich nicht entscheiden muss. Gerade in dieser Corona-Zeit fehlt mir meine Familie, die Menschen, die alle Protagonisten auf meiner Lebensbühne kennen, bei denen ich völlig selbstverständlich sein kann, so wie ich bin. Ich bin dankbar, dass es außer meinem Liebsten und meinen Freundinnen hier in Berlin auch meine beiden Cousinen in der Heimat gibt, die mein Gewordensein und Werden eng begleiten.