Wie kann ich gut durch diese Pole schwingen?
Durch die Corona- Zeit werde ich oft an meine Ohnmacht erinnert. Vieles, was geschieht, das begriff ich recht bald, liegt nicht in meinem Machtbereich. Das ist aber nicht erst seit Corona so. Auch vorher war es in meinem Leben immer wieder eine Aufgabe. Ohnmacht fühlen. Wer will das schon? Und doch kenne ich diesen Pool der absoluten Hilflosigkeit sehr gut aus meiner Geschichte. Und auch heute sitze ich vor den neuesten Meldungen und fühle dieses, was man Ohnmacht nennt. Es bedeutet für mich immer auch: Ich kann nichts tun, muss etwas geschehen lassen. Kann nichts beeinflussen. Schon ganz am Beginn der Krise dämmerte mir, dass es so ist wie beim Klima- Notstand weltweit. Auch da fühle ich sehr oft Ohnmacht. Aber bin ich, sind wir das wirklich? Ohne Macht und Einfluss auf das, was wir erleben?
Die andere Seite des Pols, die Macht, war mir früher sehr suspekt. Weil die Mächtigen nicht so handelten, wie ich es mit derselben Macht getan hätte, z.B. zur Wendezeit. Noch mehr jedoch war ich nicht in der Lage, auch die Vorzüge von mächtig sein zu erkennen. Eher fand ich mich vom Dazwischen angezogen. Liebte Rio Reisers“keine Macht für niemand“. Wenn ich selber in eine mächtige Position möchte, müsste ich nicht mein Verhältnis zur Macht erst klären? Und die Ohnmacht als andere Seite der Medaille anerkennen. Eine, die wir nicht vermeiden können. Meist, wenn ich mich ohnmächtig fühle, löst es ungute Gefühle in mir aus. Das kann Macht ebenso tun. Das Leben hat mich gelehrt, dass es eine Kraft gibt, die mich aus der Ohnmacht immer wieder herausführt. Ich nenne sie Eigenmacht. Die habe ich immer. Auch jetzt in dieser schwierigen Übergangszeit.
Ganz deutlich wird die Schattenseite der Macht genauso spürbar wie ihre Kraft. Ich verstehe immer mehr, dass es entscheidend ist, wofür ich oder andere die Macht nutzen. Und das auch Mächtige sich sicher manchmal verdammt ohnmächtig fühlen. Zwischen den Polen von Macht und Ohnmacht schwingen hieße ja auch, das dazwischen zu lieben. Gerade wünschte ich mir, dass wir Menschen uns bewusster wären, was wir gemeinsam für eine unglaubliche Kraft haben. Statt gespalten uns zu bekriegen, könnten wir mitgestalten. Wir wären zu mehr Eigenmacht fähig, als ich es jetzt oft empfinde. Ein lautes Nein! An manchen Stellen und ein entschlossenes Ja an anderen würde etwas bewirken. Wenn wir wüssten, dass wir die Wahl haben. Und wie mächtig wir sind.
Am meisten ohnmächtig fühle ich mich beim Thema Kinder und Jugend in dieser Krise. Da erlebe ich Beispiele in meinem Umfeld und höre von befreundeten Therapeutinnen Grausames. Es umgibt uns und wird Kollateralschaden genannt. Was für ein Wort! Das macht mich hilflos und ohnmächtig. Meine Wahl ist es, ich darf es tief fühlen. Dann erinnere ich mich an den Circle of Influence, in dem ich mich bewege. Gehe meine Möglichkeiten durch, spreche darüber, helfe einzelnen Jugendlichen in meiner Praxis und leiste damit meinen kleinen Beitrag. Ich nutze meine Eigenmacht, lebe meine Werte damit und komme dadurch ins Handeln. Es steht in meiner Macht, etwas zu tun, immer und in jeder Lebenslage. Also ist es wohl die Ohnmacht als Gefühl, die uns ins Handeln bringt. Jetzt in dieser Krise nutzt es mir sehr, das zu wissen. Schon früh habe ich mich entschieden zu vertrauen. Mir, meinen Instinkten und dem Netz um mich herum. In meinem Circle of Influence bin ich aktiv und tröstend, stärkend und gestaltend unterwegs. Fühle mich manchmal sehr ohnmächtig und manchmal unglaublich stark und eigenmächtig. Wenn ich jetzt hier so schreibe, begreife ich, dass es immer einen goldenen Mittelweg gibt. Dass es ein Dazwischen gibt und dass es zutiefst menschlich ist, Macht und Ohnmacht als zusammengehörig und abwechselnd zu erfahren.