Das Leben zeigt mir, dass ich oft beides bin. Viele Jahrzehnte ist es her, dass ich mit meinem Sohn im Schwimmbad war. Der kleine Schatz lief neben mir in seinem hellblauen Bademantel. Plötzlich war er weg. Angst, er ist ins tiefe Becken gefallen. Mut- ich springe sofort hinterher.
Jetzt vor 2 Jahren. Wir haben eine Aktion zu 1BillionRaising, einer weltweiten Solidaritätsaktion gegen Gewalt und Missbrauch von Mädchen und Frauen. Ich habe etwas Angst, da ich selbst betroffenen Frau bin und weiß, was das Lied „Break the Chain“ an Emotionen in mir auslöst. Muss ich beim tanzen vielleicht weinen? Sind die Frauen nett oder blöd? Die Aktion läuft und ich fühle mich im Kreis der Frauen sehr getragen. Da tritt ein Mann dazu, greift erst meiner Freundin unter den Rock, geht dann zu einer anderen und reißt ihr an den Haaren den Kopf nach hinten. Ich brülle, es ist kein Schreien, sondern wirklich mutiges Brüllen, was da aus mir herauskommt. Dieser Mut trägt mich, so dass ich an die Presse gehen kann, trägt mich, so dass ich mit meiner Freundin zur Polizei gehen kann. Und ich weiß, dass dieser Mut immer da sein wird, wenn ich irgendwo Übergriffe erahne oder beobachte. Ich werde nicht schweigen, sondern brüllen. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.
Darf ich in einer Situation ängstlich und mutig sein? In dieser Zeit mit Corona ist deutlich Beides da. Und beide Facetten treten immer wieder auf. Oft unvermittelt oder sie schleichen sich langsam ein. Dieses Jahr hat so viele Beispiele dafür.
Nach anfänglicher Unsicherheit und Ungläubigkeit war ich erstmal sehr mutig. Ich stellte mich jeder Panikmache und sammelte Argumente aus meinem Wissen und den Erfahrungen der mikrobiologischen Arbeit. Dann kamen die Einschränkungen der Besuche und der erste Lockdown. Die Angst, hier allein in meiner Wohnung eingeschlossen zu sein, traf mich sehr plötzlich. Und dabei half mein Wissen über Viren und Ähnliches gar nicht. Der Verstand ist oft untauglich, Gefühle zu beruhigen. Der Mut, Andere mit meinem Wissen zu beruhigen und einige Nachrichten zu relativieren, ist ab und an da und dann wieder weg. Ich will niemanden bekehren, sondern jedeN ernst nehmen. Nur, wenn Argumente zu abstrus sind, setze ich mein Wissen dagegen. Unmerklich schleicht sich dann manchmal die Angst ein. Weißt du es wirklich? Habe ich vielleicht in der Ausbildung etwas Falsches gelernt? Verlässt mich grad mein gesunder Menschenverstand? Ist er nach 1 Jahr Corona überhaupt noch gesund? Mutig gehe ich dann raus und treffe mich, wenn möglich, mit Bekannten und Freunden, um das zu überprüfen. Aber auch da hilft mir nicht immer der Verstand für meine Gefühle.
Ängstlich ~ mutig
Darf ich in jeder Situation beides sein?
Ja, ganz eindeutig JA. Der lange Zeitraum dieser Situation beweist es. Aber auch jede kürzere Situation.
Angst ~ Mut, gar kein Widerspruch! Das Eine hat das Andere in sich. So wie Verstand und Herz. Und wir brauchen immer beide Seiten einer Münze, sonst ist sie keine.