„Lieber Vater“, das zu schreiben befremdet mich, gehen wir im Alltag doch allzu distanziert miteinander um. Ich nenne dich, schon seit ich in der Grundschule war, beim Vornamen. Du nennst mich meistens „Kind“. Dabei bin ich jetzt schon Ende 30.
Ich bin froh, dass ich mietfrei bei euch wohnen darf. Nicht erst seit Corona bin ich auf eure Hilfe angewiesen. Immer wart ihr für mich da, du im Hintergrund, vor allem finanziell und Mama, die sich mein Wehklagen und die Hasstiraden anhört, die mich zu Arztterminen begleitet und drumherum den vollen Service bietet. Und dennoch fühlte und fühle ich mich so oft ungehört, ungesehen, als Person nicht für voll genommen. Immer wenn ich nach Hause zurückkehre, behandelt ihr mich, als könnte ich alleine nichts. Mir muss doch geholfen werden. Ihr macht mich wieder zum Kind.
Ich beneide dich um deinen unerschütterlichen Glauben an das politische System. Jede Woche werden in den Abendnachrichten neue Desaster berichtet. Ob es um die Vorteilsnahme bei Auftragsvergaben im Maskengeschäft geht, den Mangel an Impfstoffen und die vielen unsinnigen und widersprüchlichen Regelungen zum Corona-Alltag. Du bist davon nicht zu beeindrucken. Jedes Mal wenn ich mich aufrege, findest du Erklärungen und Entschuldigungen, warum die Dinge in diesem Land laufen, wie sie eben laufen. Deinen Ausführungen nach sind diese Verläufe und Amtswege eben unumgänglich. Alternativlos, sozusagen. Während ich dies schreibe, stutze ich doch glatt. Mir ist nämlich gerade etwas aufgefallen: Bei deinen Argumentationen kannst du dich offenbar spielend leicht in diese Politiker und ihre Situation hineinversetzen. Geradezu empathisch erklärst du uns, in welchem Dilemma diese Menschen gerade stecken müssen, als stündest du in engem Kontakt mit ihnen. Warum gelingt es dir hingegen nie, dich in Mamas oder meine Lage hinein zu versetzen? Hast du es überhaupt einmal versucht?
Du kannst auf Impfstoff warten, du sitzt am liebsten auf dem Sofa und liest. Kontakt zu anderen Menschen hast du beim Getränkekauf oder gelegentlich im Baumarkt. Für Auslandseinsätze hat man dich schon mit den wildesten Sachen geimpft. Angst vor Impfnebenwirkungen kennst du nicht. Was glaubst du, wie es uns geht? Mama mit ihren Immunsuppressiva und ihrer chronischen Erkrankung? Sie wird zwar einige Zeit vor mir dran sein mit ihrem Impftermin, aber wie wird sie den vertragen? Welcher Impfstoff wird dafür überhaupt zur Verfügung stehen? Jede Woche geht sie mehrmals für uns einkaufen. FFP2 hin oder her, auch hier in unserem Dorf grassiert schon die britische Mutante. Jeder Gang unter Menschen ist ein Risiko, potenziell tödlich zu erkranken.
Diese Angst treibt auch mich um. Meine Gesundheit ist labil, mein Immunsystem ein Wackelkandidat. Letztes Jahr lag ich schon zwei Wochen im Krankenhaus mit Virusinfekt. Das war bei weitem nicht so gefährlich wie Corona. Trotzdem hatte ich das „Glück“, jede erdenkliche Nebenwirkung zu erleiden. Die Rekonvaleszenz dauert bis heute an. Was glaubst du, wie es mir mit Corona ergehen würde? Ich will das Unheil nicht herbeireden, aber ich kann mir nicht recht vorstellen, dass ich zu denen mit ein bisschen Halskratzen, Schnupfen und kurzzeitigem Geschmacksverlust gehören werde. Kannst du dir vorstellen wie es ist, sich mit diesem Hintergedanken erneut ins Krankenhaus begeben zu müssen?
Ein Jahr lang habe ich es nun geschafft, Corona zu entkommen. Angeblich soll es bald Impfangebote für jeden in diesem Land geben. Wann wird meiner sein? 2023? Weißt du, wie sehr ich die Ironie fürchte, die mich schon so oft in meinem Leben genarrt hat? Dass ich möglicherweise doch noch ganz kurz vor dem Impftermin erkranken könnte, an welcher resistenten Mutantenvariante auch immer?
Du hast gut lachen, ein halbes Jahrzehnt bist du jetzt schon Rentner. Mit deinem Berufsleben hast du abgeschlossen, sagst du. Trotzdem kannst du von nichts anderem reden. Jedes andere Gesprächsthema erstickst du damit im Keim. Aber du bist entspannt. Das Haus ist fast bezahlt und deine Pension ist so hoch, dass ich nicht einmal weiß, ob ich es, trotz Studium, je in meinem Leben schaffen werde, so viel netto zu verdienen. Du sagst du verstehst nicht, warum ich mir immer so viele Sorgen um meine Rente mache. Schau dir doch die Vorausberechnungen an! Von der Summe könntest du heute schon nicht gut leben, höchstens mit Wohneigentum. Was wird das dann in 30 Jahren noch wert sein? Diese Fragen haben mir schon nachts den Schlaf geraubt, bevor die Bundesregierung mit der Gießkanne Milliardenpakete für Corona rausgehauen hat. Hast du seit dem Beginn der Pandemie und den ersten Paketen auch nur ein einziges Wort gehört, wie all das jemals gegenfinanziert werden soll? Ach ja, richtig, du glaubst ja an das System und dass „die da oben“ bzw. die Stäbe dahinter einen Plan haben und dass das am Ende schon alles gut gehen wird.
Versuch dir doch wenigstens mal vorzustellen, wie es mir gerade geht. Ich soll mir Gedanken machen, wie ich meine Zukunft gestalten will. Dabei bin ich mir gar nicht sicher, wie viel Zukunft es für mich noch geben wird. Geld, soviel ist sicher, würde ich vom Staat noch längstens ein Jahr bekommen und was ist dann? Sind wir bis dahin in der 6. Welle und gehen mit FFP5 Masken, falls es so etwas bis dahin gibt, weiter im Büro arbeiten? In der vergangenen Woche habe ich auf Arte den Film „Perfect Sense – Eine moderne Liebesgeschichte“ gesehen. Er hat mich tief beeindruckt, beschäftigt mich noch immer und hallt in mir nach. Hättest du es nicht wieder vorgezogen, dich oben auf deinem Sofa zu isolieren, hättest du in diesem Film aus dem Jahr 2011(!) sehen können, wie die Welt von einer Pandemie ergriffen wurde, die in mehreren Schüben einen Sinn nach dem anderen ausschaltet. Zum Schluss konnte keiner mehr riechen, schmecken, hören oder sehen. In dieser Welt und auf der Mattscheibe blieb es dunkel bis zum Ende. Seitdem beschäftigt mich die Frage, ob ein Leben in einer solchen Welt überhaupt aufrechterhalten werden könnte. Wäre es überhaupt noch (er-)lebenswert? Wie finden sich dort zwei Menschen wieder, geschweige denn könnten sie die einfachsten alltäglichen Dinge tun?
In unserer Welt ist es doch so viel einfacher. Warum können wir das nicht endlich nutzen? Warum kannst du nicht hinsehen, was uns beschäftigt, wie sorgenvoll unsere Gesichter sind? Warum kannst du nicht zuhören, wenn wir versuchen mit dir zu reden, uns zu unterhalten, statt uns zu belehren und zu dozieren, als würdest du um dein Leben reden. Antworte uns, setze deine Antworten in Beziehung zu uns. Überhaupt, Beziehung, wir sind drei Erwachsene, die unter einem Dach wohnen, aber wo ist dabei das Miteinander geblieben? Jeder nimmt einen anderen nur als Vorwand, als faule Ausrede und Hindernis, warum er nicht tut, was er tun möchte. Du sagst, wir können nicht verreisen, weil ich zu Hause bin. Mama sagt, es könnte ihr gut gehen, „wenn das mit mir erst mal in trockenen Tüchern wäre“. Ich sage, ich könnte ja schreiben und lernen, wenn ich nur endlich einen Rückzugsort hätte. Aber mein Zimmer ist zu klein, es war ja nur als Zwischenlösung gedacht. Aber wie heißt es so oft „nichts hält länger als ein Provisorium“. Also beklage ich mich weiter, dass ich mit Mama einkaufen muss und viele andere Dinge, für die eigentlich du als Ehemann zuständig wärst. Und ich rege mich weiter darüber auf, dass ich dich ständig höre, beim Sport treiben, klickernd am PC, oder gähnend und schnarchend auf dem Sofa. Und ich werde mich weiter bei meinem Therapeuten beschweren, dass wir nicht miteinander reden können. Weshalb ich dir auch nur diesen Brief schreiben kann, den du wahrscheinlich niemals lesen wirst und diese ganzen Dinge werden weiterhin zwischen uns stehen, bis am Ende alles dunkel bleibt.
Ich wünsche mir so sehr, dass es anders kommen wird. Aber ich kann nur mich selbst ändern. Also hoffe ich, dass ich mein Leben alleine wieder in den Griff kriege, welche Rolle auch immer Corona darin spielen wird, und ich hoffe, dass du irgendwann deine Angst, irgendwas verantworten zu müssen, ablegen kannst und wir uns wie eine normale Familie unterhalten können. Ich bin die Grabenkämpfe mit wechselnden Koalitionen so müde. Lieber Vater, ich wünsche mir nicht viel, ich wünsche mir nur, dass du endlich deinen Job in dieser Familie machst. Dass du mitmachst! Nicht zuletzt, damit ich endlich ein eigenes Leben beginnen kann. Und wer weiß, vielleicht können wir doch, wenn wir Corona alle überlebt haben, irgendwann über all diese Dinge reden, über die verlorene Zeit weinen, in der sie zwischen uns standen und vielleicht können wir uns umarmen und vergeben. Ich hoffe es sehr.