Es gab da diesen Moment, diese Zeit, da wünschte ich mir, dass ich auch einmal schwer krank werde. Ich stellte mir vor, wie das so wäre, wenn ich nicht mehr auf der Welt existierte. Sie würde sich eindeutig weiterdrehen. Ich dache an meine engste Familie und daran, was mit meinem Kind passieren würde.
Ich startete einen Plan in meinem Kopf. Es konnte zu meinen Eltern ziehen, die beide 80 und fit waren. Starben diese, gab es den Bruder mit seinen drei Kindern, der es widerwillig, aber doch aufnehmen würde. Die Widerwilligkeit beruhte sicher auf Gegenseitigkeit, da mein 14-jähriges Teenager Mädchen eine Horde Kleinkinder auf den Mond schießen würde. Ah ja! Da blieb dann noch das SOS – Kinderdorf mit seinen anderen schwierigen Kindern übrig. Vielleicht nicht die schlechteste Lebensschule, und auch aus WG-Einrichtungen kann ein glücklicher Mensch hervor gehen. Und 14 war ja nicht mehr weit entfernt von 18. Dann konnte es sein Leben selbst in die Hand nehmen.
Ich hatte ohnehin lange durchgehalten. Die Frechheiten und Aggressivitäten der letzten 365 Tage, fast Tag für Tag. Die Zeit mit meinem Teenager-Kind war ein schwarzes Loch: 10h Handy im Bett am Stück, als Alternative dazu Netflix von 15.00 – 24.00 und das täglich. Kein „Guten Morgen“, kein „Danke“, keine Umarmung. Dafür 200 Hühner gekocht, 300 kg Nudeln mit Speck gerochen, 3.000 Mal um Mitternacht hinaus gelaufen aus meinem Schlafzimmer, um das Kind von Netflix wegzubekommen, 3.000 Mal die Frage „Wozu? Ich habe ja sowieso keine Schule?“ nicht beantworten können.
Die Teenager-Tochter würde es gut schaffen im SOS-Kinderdorf. Sie war Kummer gewohnt. Ich war erleichtert. Ich konnte als beruhigt sterben. Das tat mir sehr gut.
Und wo war ich hier in diesem „falschen Film“? Wie hieß mein Besetzungspart abseits von meiner Rolle als Nahrungslieferantin, Geldverdienerin, Alleinerzieherin? Es war an der Zeit, mir mein Leben auf Erden noch ein bisschen schön zu gestalten. Ich hatte doch glatt auf mich vergessen. Das saß ich nun: mit meinem Herzrasen und meinem hohen Blutdruck, wie ein kleines Häuflein Elend. Das Problem war, niemand bemerkte es und trat im Stress des Lebens zu oft noch darauf, unabsichtlich oder aus Eile, auf dieses Häuflein, das so erschöpft am Wegesrand saß. Wie bestellt und nicht abgeholt.
Hm! Da half wohl nur eins: das Häufchen musste sich selbst auf den Weg machen, sich am Schlafittchen packen und auf Reise gehen. Es erinnerte sich noch dunkel daran. Reisen war vor Corona eine ihrer Lieblingsvergnügen gewesen. Andere Menschen kennenlernen, aus dem Alltag weglaufen. Aber es konnte ja reisen: Reisen in die grünen Weinberge im Frühling um Wien herum, sich mit guten Suppen bekochen, schöne Bücher lesen, wenn die Energie dazu da war oder zumindest schöne Träume träumen. Träumen geht immer!
Da stand dieses kleine Elend auf und machte sich auf den Weg. In den Rucksack packte es 1 kg Huhn, Speck, Nudeln und sein Teenager-Kind ein, und beschloss zu leben. Nicht zu sterben.