…weil die gewohnte Kontrollierbarkeit abhandengekommen ist.
Bisher schien das Leben mir kontrollierbar, auch wenn ich immer einräumen konnte, dass der Tod, der auch zum Leben gehört, sich unserer Kontrolle entzieht. Mehrmals habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nun aus ist, aus mit der Selbstverständlichkeit am Leben zu sein. Bin schon einige Tode fast gestorben. Hatte Angst und konnte nicht wirklich Einfluss darauf nehmen, dass mein Leben weiterginge. Aber es ging weiter und es war eine nur mich betreffende Unsicherheit, mit der ich lebte.
Nun aber herrscht nie geahnte Unkontrollierbarkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie ist kein Einzelschicksal mehr, niemand hat etwas unter Kontrolle. Keiner weiß, wie’s weitergeht. Das macht einen großen Unterschied. Wenn der Kontrollverlust nur mich persönlich betrifft, kann ich ganz anders damit umgehen. Wenn ich nun aber sehe, dass Fachleute überall auf der Welt, die mit dem nötigen Knowhow und finanziellem Aufwand forschen können, Ergebnisse zu Tage fördern, die oft nur Vermutungen sind, verliere ich den Glauben. Sogar der Glaube an mich selbst nimmt Schaden. Denn ich spüre, wie beeinflussbar auch ich bin und wie wankelmütig, wie ich mich verunsichert vorantaste und meine Fühler mal in diese und mal in jene Richtung ausstrecke und wie schwer es mir fällt, einen graden Weg zu gehen, von dem ich gänzlich überzeugt sein kann – wenigstens ich für mich. Meine Verwundbarkeit ist mir nun stets bewusst, genauso wie die Verwundbarkeit der anderen Menschen. So laviere ich tagtäglich durch den Dschungel vermeintlich unabdingbarer Maßnahmen und beuge mich dem Gesetz – mehr aus Vorsicht denn aus Einsicht. Das bin ich zumindest meinen Mitmenschen schuldig. Ich strauchele, wenn die Bedrohung – ist es wirklich eine solche Bedrohung? – mir zu nahe rückt. Dann knick ich ein und höre auf zu hinterfragen, baue ganz emsig an einer Mauer aus Sicherheit um mich herum, denn ich zweifele an meinen Zweifeln. Dann nehme ich bereitwillig, ja geradezu fordernd, die Schutzmaßnahmen für mich in Anspruch, die mir ja per Gesetz zustehen, weil ich zur Risiko-Gruppe gehöre.
Aber … dann bringe ich sehr wenig Verständnis für Familienmitglieder auf, die auf ihre ganz spezifische Art ihrer Angst nachgeben, weil ich durch ihr Verhalten und ihre Erwartungen mein Familienglück beeinträchtigt sehe. So an Weihnachten, als mein Sohn, der im Süden der Republik lebt, mich besucht hat, und dadurch Unfrieden und viele heftige Diskussionen entstanden. Ich geriet zwischen zwei Lager, das der fast irrational Handelnden und das des oft irrational argumentierenden, rebellischen Jünglings. Wie ich es hasse, zwischen zwei Fronten zu stehen, umso mehr, wenn ich mich in einem für mich undurchschaubaren Niemandsland befinde, wenn mir die Argumente ausgehen und ich mich damit abfinden muss, dass ich die Kontrolle verloren habe.
Ich lebe in einer unberechenbaren Zeit und bin konfrontiert mit der Erkenntnis, dass nicht nur mein relativ unbedeutendes persönliches Leben nicht kontrollierbar ist, sondern erfahre mit Staunen, dass es auch den Großen und Klugen dieser Welt nicht gelingt, das Geschehen zu kontrollieren. Wow!