Helene, 59, Pensionistin, lebt in Wien

Intimer Brief

Liebe Mama!

Es ist lange her. Dass ich dir einen Brief geschrieben habe. Der letzte an den ich mich erinnere, ist beinahe dreißig Jahre her. Ein Jahr, nach deinem Tod, wo ich real begreifen musste, dass du nie, nie wieder kommen wirst, uns nie wieder umarmen wirst können. Ich habe damals auch Rückschau gehalten, was du mir bedeutet hast.

Du warst nicht nur eine wunderbare Mutter, sondern auch meine beste und intimste Freundin, als ich erwachsen geworden bin. Und ich schätzte an dir, das du auch zu deinen Schattenseiten gestanden bist, dir dessen bewusst warst. Eine seltene Eigenschaft in unserer Familie. Ich setze diese Tradition gerne fort.

Bei der Aufforderung einen intimen Brief an ein DU zu schreiben, bist DU mir sofort eingefallen, zuerst hätte es unser Bundespräsident werden sollen, den ich schätze und dem ich einige Fragen stellen hätte wollen. Aber intim? Intime Geheimnisse meiner Seele habe ich nach dir niemandem mehr anvertraut, außer einer Jugendfreundin bis zu ihrem Unfall … Zu keiner Freundin hatte ich so viel Vertrauen, dass ich ihr meine tiefsten Ängste und Sorgen anvertraut hätte. Und jetzt in aller Öffentlichkeit? Oder gar an den Bundespräsidenten wenden?

Ich habe in meinem Leben Mut, viel Mut bewiesen, mich öffentlich zu äußern, zu demonstrieren, gegen Unrecht, gegen den Verbau der Hainburger Au, ja, meine Wut, meine Begeisterung ausdrücken gelernt. Auftritte auf Bühnen, vor Menschen Vorträge gehalten ist mir leicht gefallen, aber Intimes veröffentlichen? Intim, dieser Begriff ist heute schon etwas abgegriffen, wird leicht mit prüde verwechselt. Intim, das wird mit sexuellen Bedürfnissen gleichgesetzt.

Liebe Mama, die Zeiten haben sich sehr geändert seit deinem Tod.

Öffentlich und Privat verschwimmen immer mehr. Jetzt unsere Grundrechte. Eingeschränkt durch Corona, die Epidemie, die alle in Atem hält, mehr oder weniger.

Was ist privat, was öffentlich, was intim, frage ich mich gerade? Die Grenzen sind beinahe nicht auszumachen. Immer mehr Menschen outen sich, gehen mit intimen Geständnissen an die Öffentlichkeit, ihrer sexuellen Orientierung, erzählen unter MeToo von ihrem Missbrauch. Es ist wichtig aufzuschreien, aber vor allen?

Privatsphäre, gibt es die noch? Den letzten Rest versucht gerade die Epidemie zu „vertreiben“. Allen Ernstes wurde im ersten Lockdown überlegt, auch die Privathaushalte zu kontrollieren. Gottlob, wir leben in einer Demokratie, aber die wackelt heftig! Privatsphäre, das heißt eben Schutz für Intimes. Das was nur mir alleine gehört, mich angeht, sonst niemanden. Außer ich vertraue es jemandem anderen an, gebe es anderen preis.

Öffentlich ist für alle sichtbar, hörbar, lesbar, so wie vielleicht dieser Brief, aber vielleicht lasse ich es diesmal sein? Lese ich ihn nur der kleinen Gruppe vor? Ist Zoom sicher, schießt es mir jetzt wieder durch den Kopf? Was für Facebook, Whatsup gilt, könnte ja auch hier der Fall sein? Ich habe manches Mal das Gefühl, alles was ich im Internet mache, wird beobachtet, verwertet, gesammelt und benutzt. Vorerst nur zu kommerziellem Zwecken, aber was ist in einem Ernstfall, wo andere zum Feind werden könnten? Meine Daten GEGEN mich verwendet werden können?

Öffentlich heißt, es ist allen zugänglich. In einem Safer-Internet-Seminar sagte der Vortragende: „ALLES was sie im Netz an Aktivitäten ausführen, sollten sie sich als ÖFFENTLICH vorstellen, dann wissen Sie, was Sie posten, schreiben oder nicht machen sollten.“ Nein, intim wird dieser Brief nicht, sondern ich schreibe darüber, was intim für mich ist oder bedeutet

Ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich Persönliches öffentlich preisgebe. Ja, selbst Mails können gehackt, von Menschen geöffnet werden, die nicht die Adressaten sind.

Corona hat es noch deutlicher gemacht, ziemlich verstärkt, dass Menschen mehr als die Hälfte ihrer Freizeit ONLINE sind. Erschreckend für mich. Erschreckend, wie viele ungefilterte Informationen Menschen auch auf Facebook preisgeben.

Öffentlich regen sie sich über das Treten der Grundrecht mit Füßen auf, hebeln ihre eigene Privatsphäre aber mit öffentlichen Beiträgen selbst und freiwillig aus. Posten „Intimes“, Aktivitäten, die sie eigentlich nur ihren „Freunden“ zeigen wollten und diese doch öffentlich gelesen werden können, weil sie keinen Check ihrer Accounts machen.

Andererseits trauen sich immer weniger Menschen öffentlich kritische Meinungen zu äußern, insbesondere jetzt zu den Regelungen und Verordnungen unserer Regierung, weil sie fürchten gleich ins rechte Eck gestellt zu werden oder als Verschwörungstheoretiker hingestellt werden.

Und wovor ich jetzt Angst habe? Es ist die Öffentlichkeit selbst, die in zwei Lager gespalten ist, mehr oder weniger. Liebe Mama, mich würde sehr interessieren, welches Gefühl hatte deine Mama, meine Oma, zwei Jahre vor 1928 vor der heftigen Inflation? Hat es sich abgezeichnet? Oder hast du etwas vor Beginn des zweiten Weltkrieges gespürt? Vorwehen, ein ungutes Gefühl in deinem Bauch?

Ich habe ein mulmiges Gefühl. Nein! Ich habe keine Angst. Dieser kann ich mich stellen. Aber so ein flaues Gefühl. Als Kind habe ich dazu gesagt „ich fürchte mich ein bisserl“, wenn ich das Gefühl nicht genau benennen konnte. Und das habe ich, Mama, und zwar manches Mal ziemlich heftig. Ein Gefühl, das ich, wenn ich ehrlich bin, nicht einmal dir gegenüber in richtige Worte kleiden kann.

Schau bitte auf uns! Begleite mich bitte mit deinen Gedanken!

Deine dich liebende und dich immer noch stark vermissende Tochter

Helene