…habe ich zurzeit keinen Job, bin dabei, mich neu zu orientieren.
Und wusste ich vorher schon nicht, was ich denn tun wollte, so beschäftigen mich jetzt auf einmal Fragen, auf die ich vor Corona gar nicht gekommen wäre, zum Beispiel wie Krisen- oder gar Pandemiesicher so ein Job im Ernstfall überhaupt wäre. Wer bitte wäre früher auf die Idee gekommen, dass scheinbar sichere Branchen wie Hotel/Tourismus/Gastronomie auf einmal auf Eis gelegt würden? Wie viele Menschen haben sich mit tollen, gut durchdachten Ideen selbstständig gemacht und stehen jetzt vor dem Hintergrund dieser veränderten Rahmenbedingungen vor dem Aus?
Ende 2019 habe ich meinen Job verloren, wurde gekündigt. Da war ich schon nicht richtig fit. Ich hatte Anfragen von Headhuntern und Personalberatern, sogar meine Bewerbungen verliefen fruchtbar. Aber da stand gerade noch ein OP Termin aus, der 21. in einer endlosen Reihe und jeder hat mich ein Stück müder, kaputter und desillusionierter zurückgelassen. Zweimal habe ich deswegen den Job verloren, da macht die Psyche irgendwann auch nicht mehr mit. Ja und einen neuen Job anfangen, wenn man vorher sagt, da müsse man erst noch operiert werden, ist gar nicht so einfach. Aber ich mag auch nicht lügen. Was ist denn das für eine Basis für ein neues Arbeitsverhältnis? Und meine Ärzte können mir auch nicht sagen, wie viele Behandlungen ich noch benötigen werde. Es ist ein bisschen wie die Corona Krise, ein Fahren auf Sicht. Nur bin ich in dieser Hinsicht schon seit sieben Jahren unterwegs. Ich kann es selbst kaum glauben, wenn ich es hier niederschreibe. Die Kontakte zeigen sich dann erstmal sehr verständnisvoll, natürlich, sie sind ja Profis. Sie wünschen alles Gute für die OP, es gäbe halt Zeiten im Leben, da wäre die Gesundheit wichtiger und ohne Gesundheit ist ja bekanntlich alles nichts. Ich solle mich doch wieder melden, wenn ich wieder gesund bin und erholt, ja, da ginge man dann frisch ans Werk.
Aber am Ende bleibt es immer still – als wäre es ein Verbrechen, ein unauslöschlicher Makel, wenn man nicht 100%ig gesund und leistungsfähig ist. Ich hätte mir selbst bestimmt auch was anderes gewünscht. Also sage ich die Angebote ab. So richtig wohl habe ich mich damit ohnehin nicht gefühlt. Aber es macht schon gehörig Angst. Bislang war mein Lebenslauf lückenlos, verschwanden auch längere Krankenzeiten in bestehenden Beschäftigungsverhältnissen. Nun beginnt ein Vakuum.
Die neue Ärztin meint, nach den ganzen OPs solle ich mal in die Reha fahren. In der Reha erzählt man mir, ich solle einen Grad der Behinderung beantragen, dann hätte ich doch Kündigungsschutz und Ansprüche auf verschiedene Hilfs-und Integrationsangebote. Aber so richtig Ahnung haben die dort nicht. Ein Antrag ist schnell gestellt und mit dem Bescheid darf der Patient sich später selbst herumschlagen.
Anfangs hat mich Corona ein bisschen beruhigt. Ich dachte bei so viel Chaos und Durcheinander würde die Lücke in meinem Lebenslauf weniger Beachtung finden. „Gesundheitsbedingte Auszeit mit anschließender Rehabilitation“ – der Sozialdienst in der zweiten Reha meint, besser könne ich schreiben, ich wäre “zum Kiffen in Australien“ gewesen als dort rein zu schreiben, dass ich krank war. Ich kenne mich mit beidem nicht aus. Weder habe ich bisher schon mal gekifft, noch war ich in Australien. Angesichts der Reisebeschränkungen in der Coronazeit empfinde ich den Vorschlag auch als wenig glaubwürdig, geschweige denn hilfreich. Ja, mir ist schon klar, dass das nur ein Vorschlag war, aber was wäre denn wirklich eine glaubhafte und dazu noch gewinnbringende Begründung für diese Lücke? Praktikum, Neuorientierung, Weiterbildung? Wäre alles toll gewesen. Dabei war ich einfach nur krank und das so oft und schwer in diesem Jahr 2020 wie es zuvor in meinem Leben noch nie der Fall war, und dabei bin ich sogar bislang – TOI TOI TOI – von einer Corona-Infektion verschont geblieben. In dieser zweiten Reha werde ich demütig, umgeben von Patienten mit MS, Hirntumoren und Schlaganfällen ist es mir fast peinlich, überhaupt einen Antrag auf GdB gestellt zu haben. Andererseits waren auch viele Menschen damit erfolgreich, die deutlich weniger Beschwerden haben als ich.
Ich bin vor allem wütend und traurig in einer Gesellschaft zu leben, in der sich der Wert von Menschen hauptsächlich nach ihrer Leistungsfähigkeit im Job zu bemessen scheint. Ich bin mir sicher, wir alle wären lieber gesund und leistungsfähig. Aber wenn man es nicht ist, dauert es trotzdem kaum einen Wimpernschlag durch die Raster unseres so hochgelobten Sozialsystems zu fallen.
Jetzt bin ich fast anderthalb Jahre zu Hause. Eigentlich wollte ich längst wieder arbeiten gehen. Stattdessen bin ich kurz vor der 23. OP. Das Krankengeld ist zu Ende. Die Lücke in meinem Lebenslauf kommt mir immer mehr vor wie ein schwarzes Loch im Weltall, in dem alles versinkt, was auch nur in die Nähe kommt. Nicht nur fehlen mir immer mehr die Worte, wie ich diese Lücke rechtfertigen könnte. Zusätzlich befallen mich noch ganz andere Ängste. Ich habe die Digitalisierung verpasst. Die Leute, die in dieser Zeit weitergearbeitet haben, müssen doch jetzt Profis sein: Home-Office, Videokonferenzen, digitale Organisationstools. Ich fühle mich ganz aus der Zeit gefallen. Vielleicht kann ich jetzt langsam nachvollziehen, wie sich vor einiger Zeit die älteren Arbeitnehmer gefühlt haben, als überall Computer eingeführt wurden. Ich bin jetzt 37, aber wie ein „Digital Native“ fühle ich mich lange nicht mehr. So vieles verändert sich, der Computer ist ein alter Hut. Jetzt kommen auch noch ganz neue Methoden. Hierarchien sind von gestern, Aufstiegsdenken noch viel mehr. Heute muss alles agil sein, es gibt nur noch Rollen. Heute spiele ich Chef, morgen im Projekt bin ich der HiWi. Alleine bei Stellenausschreibungen muss sich jetzt schon manchmal googeln, was da wirklich gesucht wird und schlau werde ich auch längst mit Google nicht mehr daraus.
Apropos Rollen, was soll meine neue Rolle werden? Die letzten sieben Jahre habe ich stets die Rolle des chronisch Kranken zum Besten gegeben, ja da habe ich mich wohl ein wenig drin eingerichtet. “Ich würd ja gern, doch kann ich nicht, ihr wisst schon …”
Das soll anders werden. Mein früherer Job? Interessiert mich ehrlich gesagt nicht mehr. Bin ich doch da gelandet im Zuge eines iterativen Prozesses. Gefühlt aus einer Fehlentscheidung versucht, etwas Besseres zu machen. Was ist mir gelungen? Heute empfinde ich was folgte bloß als bessere Fehlentscheidungen. Aus dem Unmut darüber, Erreichtes nicht aufgeben zu wollen, nie den radikalen Neuanfang gewagt. Stattdessen am toten Pferd operiert. „Wenn du merkst, dass das Pferd, das du reitest, tot ist, steigt ab“, lautet ein indianisches Sprichwort. Aber was dann? Wenn du deinen Weg nicht kennst, kann der zu Fuß verdammt lang werden.
Schon wieder ertappe ich mich beim Hadern mit mir und meinen Entscheidungen. Wäre es nicht doch besser gewesen, eins der Jobangebote damals anzunehmen? Wie wäre es mir dann 2020 ergangen und wo stünde ich jetzt? Wer konnte schon ahnen, was da in Form einer Pandemie auf uns zukam? Meine Krankheit ist ein eigenes Problem und auch ohne Corona hätte ich meinen Job verloren. Aber unter Corona erscheint es mir ungleich schwieriger, einen Neuanfang in die Tat umzusetzen. Immer wieder höre ich, dass Firmen auch jetzt noch neue Mitarbeiter einstellen. Aber wie läuft das tatsächlich ab mit den Vorstellungsgesprächen, ach nein, Job Interview heißt das nun? Wie werden denn die neuen Mitarbeiter eingearbeitet oder wie kann man sich jetzt mit neuen Qualifikationen ausstatten, die sich auf die Arbeit mit Menschen beziehen? Das geht doch nicht alleine virtuell, ohne den persönlichen Kontakt. Ich fühle mich allein schon vom Prozess völlig überfordert.
Und ich habe wirklich keinen Schimmer, welche weiteren gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen uns Corona noch bescheren wird. Mein Bedürfnis nach Absicherung war noch nie so groß, die Sehnsucht nach einer zukunftsweisenden Kristallkugel noch nie so unerfüllbar. Und mir wird bei jeder neuen Überlegung zur Job- und Lebensperspektive bewusst, Sicherheit – die gibt’s nicht mehr.