Duftpelargonie, 60 Jahre, alleinstehend, wohnt am Land, Tochter, glückliche und stolze Mama und Oma

Corona betrifft mein Leben als Tochter: Mutti nicht besuchen dürfen

Meine Mutti ist an Demenz erkrankt und lebt in einem Pflegeheim. Mich als Tochter erkennt sie seit über zwei Jahren nicht mehr. Ihren 93. Geburtstag feierten wir mit insgesamt 8 Personen. Wir brachten die Torte mit und die Animateurin des Pflegeheimes schmückte den Geburtstagstisch für die Familienfeier und stellte Kaffee und kalte Getränke bereit. Ein Herr von den Senioren des Ortes brachte einen Blumenstrauß mit kleinen rosa Rosen. Wir sangen alle zusammen für Mutti „Happy Birthday“. Es war ein geselliger Nachmittag. Mutti fühlte sich im Kreis der Familie wohl.

Wenige Tage später begann Corona auch uns zu betreffen. Die älteren Menschen wurden abgeschottet, damit sie nicht mit dem neuen Virus aus China angesteckt werden. Niemand wusste, wie die Krankheit verläuft. Aus Bergamo wurden in den Nachrichten schreckliche Bilder von Särgen gezeigt, die mit Militär-LKWs von Krankenhäusern weggebracht wurden. Vorwiegend ältere Menschen starben. So kam es allen sinnvoll vor, dass ältere Menschen in Heimen besonders geschützt werden müssen. Allzulange wird dieser Spuk sicher nicht dauern, dachten wir im ersten Lockdown.

Mutti sitzt tagsüber mehrere Stunden im Rollstuhl. Sie sieht fast nichts; wieviel genau – lässt sich nicht feststellen. Am allgemeinen Geschehen im Aufenthaltsbereich kann sie nicht teilhaben. Sie kann aber noch den Trinkbecher vor sich am Tisch ertasten. So ist Trinken ihre einzige Beschäftigungsmöglichkeit. Sonst sitzt sie ruhig da und redete bis kurz vor Corona fast ununterbrochen. Das Reden war wohl ihr Ausgleich zur Immobilität. Denn als Gesunde war sie den ganzen Tag in Bewegung. Einen begonnenen Satz kann sie aber nicht mehr zu Ende denken. Irgendwann fehlen ihr adäquate Worte.  Wenn ich neben ihr sitze und von alten Zeiten erzähle, äußert sie manchmal erstaunlich kluge Bemerkungen. Sie spricht in Hochdeutsch und sehr besonnen. Das fällt auf, da alle anderen im Heim im Dialekt reden. Bei jedem Abschied bedankte sie sich und lässt an alle daheim liebe Grüße ausrichten. Dann bittet sie mich, dass ich bald wiederkomme. Wenn sich jemand für sie Zeit nimmt und ganz da ist, fühlt sie sich wohl.
Seit einem Jahr ist das Heim aber immer wieder für Besucher geschlossen gewesen.

Die Zeiten, wo ich das Heim nicht betreten durfte, war für mich schrecklich. Mich plagten Schuldgefühle, dass ich Mutti abgeschoben habe. Ich war besorgt, ob ich sie wohl wieder einmal sehen werde. Ich hatte Angst, dass sie verzweifelt, weil den Mitarbeitern im Heim ihr Leben in der vergangenen Zeit nicht bekannt war. Dies war aber die einzige Möglichkeit, sie zu halbwegs nachvollziehbaren Antworten zu bringen. Da hatte ich das Gefühl, sie aus ihrer eigenen Welt mit vor sich hin Plappern ins ganz Dasein zu locken. Einmal versuchte ein Zivildiener Mutti übers Tablett mit mir in Kontakt treten zu lassen; das funktionierte nicht, da sie nicht zuordnen konnte, woher die Stimme kam. Dies blieb ein Versuch. Ich wartete weiter und hoffte, dass Mutti gesund bleibt. Sie ist so zart und gebrechlich und ängstlich. Oft war ich sehr traurig, weil ich sie nicht besuchen durfte. Mutti kann ihre Bedürfnisse nicht mehr benennen. Sie reagiert aber auf zu wenig süßen Himbeersaft mit Mundverziehen. Sie ist auf einfühlsame Pflegepersonen angewiesen, die erspüren, was ihr gut tut. Darauf muss ich vertrauen. Ich befürchtete, dass Mutti an Einsamkeit und Verzweiflung sterben wird. Dann vertraute ich wieder darauf, dass Mutti auf Grund ihrer Erkrankung an Demenz nicht bewusst wahrnimmt, dass sie schon so lange nicht mehr besucht wurde.

Nach unendlich langen Wochen des Wartens – endlich zum ersten Besuch angemeldet. Ich war sehr aufgeregt. Wie wird Mutti aussehen? Wird sie bedrückt wirken? Wird sie noch dünner sein? Wird sie krank aussehen? Wird sie noch sprechen können?
Ich freute mich so, als ich sie endlich wieder sah. Die vielen Wochen dazwischen waren ihr nicht anzumerken. Nur ein wenig ruhiger ist sie geworden.

Im Sommer konnte ich mit ihr im Rollstuhl in die Stadt fahren. Manchmal trafen wir Bekannte aus Muttis Heimatort. Die Leute fragten, wie es ihr gehe. Sie fühlt sich immer wohl, wenn sie von Menschen die volle Aufmerksamkeit erhält. Eine wohlwollende Zuwendung tut allen Leuten gut, besonders spüren das an Demenz Erkrankte. Denn da bin ich mir ganz sicher, dass das Herz nie dement wird. Ich glaube, dass Leute, die nicht mehr wie Gesunde denken können, ein besonderes Gespür für den Gefühlszustand des Gegenübers haben. Immer, wenn ich besonders viel um die Ohren hatte, fragte mich Mutti, ob sie mir irgendwie helfen könne oder ob sie mir eine Arbeit abnehmen könne. Sie bemerkte es immer, wenn ich im Alltag überfordert war.

Im späten Herbst und bis Weihnachten war nur ein wöchentlicher Besuch mit Maske und viel Abstand möglich. So gelingt aber mit Mutti keine Unterhaltung. So macht sie ein Besuch nur unruhig, weil sie nicht weiß, woher die Stimme kommt und ob überhaupt sie gemeint ist. Ich war wieder einmal traurig und verzweifelt über diese unzumutbare Lage. Da muss ich doch was ändern können! Ich telefonierte mit vielen Leuten in Ämtern, die ich für Heimbewohner und deren Anliegen zuständig  vermutete. Mehrmals wurde ich weiterverwiesen. Dann erreichte ich eine verständnisvolle und empathische Beamtin, die selbst ihre Mutter im Heim besucht. Sie sagt, dass die Bewohner nicht „eingesperrt“ sind und dass diese das Recht haben, das Heim zu verlassen. Sie fahre mit ihrer Mutti regelmäßig spazieren. Das war mir bis zu diesem Telefonat nicht bekannt. Ich besorgte einen warmen Fußsack für den Rollstuhl und konnte nun mit Mutti jederzeit Spazierenfahren, wenn es nicht gar zu frostig war. Das war auch für mich Freiheit und Beruhigung.

Inzwischen erhielt Mutti beide Teilimpfungen, die sie gut vertragen hat. Ich und meine Familie sind von der Corona Erkrankung genesen. Vor kurzem jährte sich Muttis Geburtstag. Sie wurde 94. Es war ein sonniger und warmer Wintertag. Ich holte sie zum Spazierenfahren ab. Am Rande eines stillen Platzes blieben wir in der Sonne stehen. Meine Tochter und der Schwiegersohn kamen mit den beiden Urenkeln dazu. Wir sangen wieder „Happy Birthday“ und Mutti sang mit. Meine Tochter besorgte To Go Getränke. Wir feierten im Freien mit Abstand. Trotzdem, oder vielleicht gerade auf Grund dieser herausfordernden Coronazeit, fühlten wir uns als Familie und genossen Mutti mitten unter uns. Mit einem Selfie wurde dieser besondere Tag festgehalten.