…verwandelt es meine religiöse Praxis.
Ich bin Priester, schon seit 1989, also ziemlich lange. Ich habe zwar nicht jeden Tag einen Gottesdienst gefeiert, aber doch annähernd täglich. Sonntags-Messen waren für mich immer eine fixe Gewohnheit, schon als Kind und Jugendlicher vor meinem kirchlichen Beruf. Nur Krankheit war ein Grund, eine Messe zu versäumen.
Ich habe immer gerne mit Menschen gefeiert: Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse, Segnungen, Wort-Gottesdienste. Eucharistiefeiern. Manches ist zwischendurch auch zur Routine geworden. Das heißt, ich habe funktioniert, habe mich nicht mehr gefragt, ob ich das jetzt will oder nicht. Ich habe es einfach zu meiner Pflicht gemacht.
So sah die öffentliche Seite meines religiösen Lebens aus. Natürlich wirkte diese auch auf meine private Religiosität, doch die Pflege meiner ganz persönlichen Spiritualität habe ich neben der beruflichen eher vernachlässigt. Wenn ich z.B. an das Stundengebet denke: oft habe ich es ausgelassen, manchmal noch schnell vor dem Frühstück die Laudes „gelesen“. Für zusätzliche Bibellektüre war in meinem Alltag eher wenig Platz.
Und jetzt kam Corona und hat diese religiöse Praxis auf den Kopf gestellt – und auch verwandelt. Von hoch offizieller Seite wurden zunächst öffentliche Gottesdienste untersagt. Von der Sonntagspflicht wurden die Gläubigen pauschal dispensiert. Es folgten für mich ab Mitte März des letzten Jahres Tage und Wochen ohne Eucharistiefeier, der ich als Priester vorstand. Nur für mich allein zu feiern war und ist für mich ein No-go.
Und ich merkte, dass mir die Messe eigentlich nicht abging.
Was mir mit der Zeit fehlte, das waren die Menschen und der Begegnungs-Austausch mit ihnen. Aber der Ritus an sich fehlte mir nicht. Sogar am Sonntag dachte ich nicht – wie viele andere – daran, wo ich vielleicht die Kommunion empfangen könne.
Im Gegenteil, ich fühlte mich wohl, wie es war. Es war eine neue Freiheit. Ich durfte mir meine Religiosität selbst formen und gestalten.
Ich genoss es, wenn ich schöne Fernseh-Gottesdienste anschauen konnte und mich an einer guten Predigt oder an einer anspruchsvollen Musik erfreuen konnte.
Ich stellte fest, dass meine religiöse Außenseite so etwas wie eine gesellschaftliche Schale war, in die ich mich hineinwarf, meistens auch gerne hineinbegab. Aber das innerste Herz wurde durch diese Schale scheinbar nie so unmittelbar berührt.
Jetzt spürte ich, was meinen persönlichen Hunger wirklich stillen konnte: schöne Musik, ein gutes Wort, die Ruhe… von der hatte ich ja jetzt viel mehr zum Nachspüren und Nachdenken. Mein persönlicher Seelenhunger fand jetzt seine Nahrung in bewussten Gesprächen, Telefonaten in konkreten Begegnungen während meiner ausgedehnten Spaziergänge, im Schreiben. Ich schrieb unter anderem jede Woche meiner Pfarrgemeinde einen persönlichen Brief.
Und ein ganz wichtiger Aspekt meines durch Corona gewandelten Lebens war die verfügbare Zeit am Morgen, mein Morgen-Ritual, das mich ab und zu denken ließ: „Georg, jetzt lebst du wie ein Mönch im Kloster.“
Ich stehe fast immer um dieselbe Zeit auf, wasche mich, bereite das Frühstück vor und widme mich dann meinen Yoga-Übungen. Anschließend nehme ich mir für ein genüssliches Morgenmahl Zeit: Kaffee und Müsli, oder Kaffee und belegte Brote. Immer brennt da auch eine Kerze, und ich segne mein Essen, bevor ich es dankbar einnehme. Danach ist Zeit für Zähneputzen und Toilette. Dann bin ich frei für Gebet und Schrift-Lesung. Dafür habe ich im Wohnzimmer einen eigenen Platz hergerichtet. Eine Kerze brennt, die Klangschale steht auf dem Tischchen. Und mein iPad, wo ich die Texte der Laudes und die Schrifttexte des Tages leicht abrufen kann, ist griffbereit.
Und siehe!
Plötzlich begannen die Bibel-Perikopen, für mich lebendig zu werden. Sie fingen an, mich anzusprechen. Sie luden mich ein, zu verweilen. Ich entdeckte Quellen, und fand sättigende Nahrung für den Tag. Ab und zu entdeckte ich voller Glück einen roten Faden, der mir die Augen meines Herzens öffnete. Ich spürte, wie sich in mir Dankbarkeit ausbreitete und meinen Körper wärmte. Normalerweise habe ich kalte Hände und Finger, aber während dieser Morgenzeit pulsiert mein Blut in meinem ganzen Körper und wärmt mich von innen her.
Vor kurzem dachte ich, als ich wieder mit dem Morgen-Ritual begann: „Ich will jetzt nicht nachdenken, ob ich Yoga machen will oder es ausnahmsweise einmal auslasse, ob ich mich schon auf das Frühstück freuen darf und die Laudes dann noch schnell anhänge…. Nein, ich werde alles so tun, so wie ich es mir vorgenommen habe. Ich muss auch keine extra Super-Freude herbeisehnen. Ich lebe einfach mein Leben, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug: ich übe, esse, bete… und so lasse ich mich ein auf das Geheimnis des Tages…
Und auf einmal verspürte ich Lust und Vorfreude – nicht wie sonst auf das leckere Essen – sondern auf die Schrifttexte…auf dass sie mich nähren und stärken für den Tag.
Da wurde mir klar:
Corona hat nicht nur mein äußeres Leben verändert, sondern auch meine innere Herzens-Haltung. Ich habe Quellen gefunden, an denen ich früher vorbeigegangen bin. Jetzt ist mir doch tatsächlich das Wort Gottes zur willkommenen Speise geworden.
Corona betrifft wirklich mein Leben, und zwar hat es meine religiöse Praxis verwandelt – und damit auch mich selber.