…sind Spaziergänge als bewusste Pausen vom Alltag in mein Leben neu eingetreten.
Es ist 6.30 und es klingelt der Wecker. Meist liege ich noch halbwach bis 7.00 im Bett und geniesse diese ½ h länger mit dem Bewusstsein, keinen Anfahrtsweg mehr in die Arbeit zu haben. 3 Meter neben meinem Bett befindet sich schon mein Arbeitsplatz. Ich mache mir meine tägliche Tasse Earl Grey Tee mit Milch, erfrische mein Gesicht mit Wasser, und stelle mich auf das grantige Teenagerkind ein, das sich so schwer mit dem Aufstehen tut nach 3 Monaten kompletten Schul-Lockdown seit 9.11.2020. Ich bereite kleine mundgerechte Schnitten Brot und ein Glas Wasser für das Kind zum Frühstück vor. Von 7.00 bis 7.30 bin ich ständig am Sprung, meine Tochter wegen ihrer Trödelei zu ermahnen. Manchmal versuche ich diesen Morgenstress zu durchbrechen und die ewigen Wiederholungen „Weisst Du eh, wie spät es schon ist, du kommst zu spät in die Schule“ zu stoppen und ziehe mich zurück in mein Schlafzimmer: Anziehen, mich um mich selbst kümmern. Um 7.45 verabschiede ich meine Tochter erleichtert, wenn sie sich endlich in die Schule aufmacht. Die Zeit bis 7.45 ist ein stressiger Start in den Tag.
Dann frühstücke ich und ertappe mich dabei, mehr frühstücken zu wollen, nur um nicht zum Arbeiten anzufangen. Nur um nicht so getaktet zu sein in meinem Leben. Beim Frühstück denke ich das erste Mal am Tag an einen Spaziergang. Eigentlich ist es nicht der Spaziergang, an den ich denke, sondern für was er steht: die Welt da draussen, die Überraschung, das Ungeplante, die Freude, das Abenteuer, die Menschen. Egal, ob es regnet oder schneit oder die Sonne lacht. Mich zieht es hinaus, wenn die Energie dafür nur halbwegs vorhanden ist. Da ich erst um 9.00 zu arbeiten anfange, gehe ich dann oft wirklich ½ h schnell einkaufen, ein Runde Luft schnappen, eine Prise Überraschung um die Ecke erhoffend, ein nettes Lächeln eines Menschen. Der Spaziergang, um meine kleine Welt des Homeoffice-Alltags und der Alleinerzieherin-Familie mit der großen Welt zu vermischen. Manchmal aber selten mache ich noch Yoga vor der Arbeit und freue mich bei diesen Anlässen dann besonders über mein Homeoffice. An solchen Tagen bin ich stolz, mir schon in der Früh so viel Gutes getan zu haben.
Um 9.00 setze ich mich an meinen Schreibtisch, schalte mein Firmenhandy an. Der Arbeitstag beginnt. Die Freiheit im Homeoffice schätze ich sehr. Ich nütze sich auch manchmal sehr bewusst. So baue ich 1-2 Mal pro Woche während der Arbeit einen Spaziergang ein. Wenn ich mit meiner Chefin ein langes Telefonat führe, und dabei 10 Runden um den kleinen Park bei mir ums Eck drehend, oder um 15.00 Luft schnappend, wenn der Kopf raucht und das Wetter so schön ist. Dann hänge ich meine Arbeitszeit abends dran oder hole sie am Wochenende nach. Ich notiere sie mir täglich gewissenhaft in meinen Kalender zu Eigenkontrolle. Vertrauenarbeitszeit: Ich mag das Wort. Am frühen Abend gegen 17.00 oder 18.00 gehe es weiter mit einem Spaziergang. Fast jeden Tag lüfte ich meinen Kopf aus, radle zum nächstgelegenen Park, spaziere 1/2h herum und radle wieder heim. Macht 1h an der frischen Luft. Früher hatte ich eine 3/4h Anfahrtsweg ins Büro. Diese 1 1/2h fallen jetzt jeden Tag weg.
Neben Spaziergängen vor, mitten oder nach der Arbeit kommen noch die Spaziergänge in meiner Freizeit dazu. Sie gehören zu meinen Corona Highlights. Noch mehr simples „Abenteuer“ in diesen Corona Zeiten.
Im 1.Lockdown, im Frühjahr 2020 war mein Freund in Kurzarbeit. Es war Frühling 2020 und wir verbrachten viele Wochenenden bei langen Spaziergängen in den Weinbergen um Wien herum und im Lainzer Tiergarten beim Bärlauch pflücken. Da er unter der Woche nicht arbeitete, war er am Wochenende nicht zu müde für diese ausgedehnten Spaziergänge. Ich habe sie sehr genossen, auch wenn es etwas Surreales hatte, wenn die Polizeiautos die Weingärten am Rande Wiens abfuhren, um die Spaziergängerregeln im Lockdown sogar hier zu kontrollieren.
Noch etwas geniesse ich sehr, das mit Corona neu in mein Leben gekommen ist. Ich treffe seit einem Jahr alle Freundinnen und Freunde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast nur noch draußen. Auch hier wieder auf einen Spaziergang. Man spart einen Menge Geld als Nebeneffekt. Und ich entdeckte, dass man sich nicht immer in einem Café, in einem Restaurant oder irgendwo treffen muss. Auch ein Spaziergang ist gut, um die Freundschaft zu bewahren, und sich selber Gutes zu tun.
Dass ich vor Corona ein Spaziergang – Muffel war, kommt mir fast unglaubwürdig vor, aber ich bin froh, dass Corona diese simple, unaufwändige Freude in mein Leben gebracht hat. Vielleicht hätte ich ohne Corona nicht den Spaziergang für mich entdeckt.
Diese Corona Spaziergänge, allein in meinem Homeoffice seit fast 365 Tagen, verbinden mich auf eine gewisse Weise mit der Welt. Das was mich vorher mit der Welt verband: nette Freunde zum Abendessen zu mir einzuladen, mit meiner Freundin ins Kino zu gehen, Leute zu umarmen, sich die Hand zur Begrüssung und zum Austauschauftakt zu geben, oder am Wochenende mal ins Museum zu gehen, zu plaudern bei einem Glas Wein in einem netten Restaurant, mit meiner Tochter ins Jugendtheater zu gehen. All das, was mich früher unkompliziert in Interaktion mit meiner Aussenwelt treten liess, ist jetzt dieser Spaziergang. Wenn ich hinaus gehe und mich bewege und die frische Luft einatme, fällt es mir schwer, traurig zu sein oder nachdenklich über etwas zu brüten. Ein Spaziergang gibt mir fast immer Energie.
Der Spaziergang, fast will ich ihn „Corona Spaziergang“ nennen, verbindet mich nicht nur mit der Welt um mich herum, sondern auch mit mir selbst.