Hedo, 50, Familienfrau, Heilpädagogin, Musiktherapeutin, aus Thüringen

Corona betrifft mein Leben… und zwar, zum Beispiel…

In meinen Bleistift purzeln viele Corona-Beispiele, positive und negative. Und ich kann mich nicht so einfach entscheiden, von welcher der beiden Seiten der Medaille ich ein Beispiel wähle. Viele lassen sich auch gar nicht positionieren auf positiv oder negativ oder einen anderen festen Platz. Sie entziehen sich einer Einordnung oder erlauben nur ein augenblickliches Einordnen und entpuppen sich zu anderer Zeit mit ganz anderem Vorzeichen.
Ich wähle das Beispiel, was in mir gleich ganz oben aufliegt, wenn ich jetzt in mir nachfrage. Es beschreibt, was sich in einem mir sehr wichtigen und überwiegend schönen Teil meines Lebens ereignet hat. Ich begleite beruflich Menschen, die aus Gründen verschiedener Behinderungen für ihre Lebensgestaltung Begleitung brauchen. Die Corona-Beschränkungen betreffen natürlich auch diese Menschen. Und weil ich durch meine Betreuungs-Aufgaben diesen Menschen sehr nahe bin, betreffen mich die Corona-Schwierigkeiten ebenfalls.
So erlebe ich mit Staunen, wie sich ein zirka vierzig jähriger Mann mit erheblichen Besonderheiten in der Wahrnehmung und im Verhalten unter den aktuellen Corona-Beschränkungen so entfaltet, wie das niemand für möglich gehalten hätte. Die Beschränkungen, denen er ausgeliefert ist, setzen in ihm ein völlig ungeahntes Verhalten sowie bisher nicht bekannte Fähigkeiten frei.

Er reagiert auf die Veränderungen, wie beispielsweise seine geliebte Mutter nicht sehen zu können nicht – wie häufig üblich – mit Murren und Klagen, sondern mit bewundernswerter Gelassenheit.
Er entdeckt die Möglichkeiten des Briefeschreibens nicht nur an seine Mutter. Vielmehr entwickelt er Brieffreundschaften und betreibt solche mit zunehmendem Interesse.
Er baut seine Ressourcen aus, wie zum Beispiel viel Malen und legt dabei sein handwerkliches Geschick frei.
Veränderungen ertragen, Möglichkeiten nutzen, Ressourcen ausbauen. Das lebt mir dieser Mann vor!

Wenn ich anfangs geschrieben hatte, dass ich Menschen begleite, die Begleitung brauchen, dann beschämt mich das jetzt nahezu.

Gewiss, Menschen mit Behinderungen brauchen Begleitung beispielsweise beim Einkaufen; aber das brauche ich auch bei so manchen Sachen (Auto, Versicherung, Röcke, Zahntechnik). Sie brauchen Begleitung beim Arztbesuch. Aber das brauche ich auch, wenn ich jemanden mit meinen Ängsten und Befürchtungen vor oder nach so einem Arztbesuch beanspruche. Sie brauchen Begleitung beim Kommunizieren. Aber das brauche ich auch, wenn ich auf so manchem Holzweg angekommen bin.
Begleitung bei so vielen anderen Lebensbereichen. Aber die brauche ich auch bei so vielen anderen Lebensbereichen.

Viel spannender finde ich, wie dieser Mann mit der aktuellen Situation umgeht, was er kann und was er daraus macht. Er macht das „einfach so“, ohne, dass es jemand Professionelles in professionelle Pläne geschrieben hat.
Er kann und macht das so überraschend, dass gar niemand Professionelles dafür eine professionelle Liste hätte anfertigen können.
Es geschah einfach!
Und ich durfte dabei sein.
Er hat mich durch sein ganz eigenes Handeln begleitet, ermutigt, inspiriert. Durch sein unmittelbar menschliches, intuitives Vorleben hat er mir geholfen, die Corona-Besonderheiten geduldiger anzunehmen und mit den damit verbundenen Veränderungen konstruktiver umgehen zu können. Ich entdecke auch, dass sich das auf ich meine eigenen, manchmal verschüttet oder verloren geglaubten oder drastisch unterschätzten Ressourcen positiv auswirkt.

So wurde mir dieser Mann zum Schlüssel für so manche eigenen Erlebnisse und Aktivitäten. Eine davon purzelt mir nun doch in den Bleistift.
Eine „Corona-Aktivität“ in unserer Stadt ist die Kirchturmmusik. An der haben sich bisher in der gesamten Corona-Zeit etwa einhundert Mit-Musizierende beteiligt. In einem improvisierten Tonstudio in der Kirche, für niemanden sichtbar, wird corona-sicher musiziert. Leistungsstarken Boxen auf dem Kirchturm übertragen die Laien- und Profi-Musik Stadt weit hörbar über die Stadt. Ich habe mir getraut, im Rahmen „unserer Musik“ vom Kirchturm zu singen. Ich habe mir getraut, von der Liebe zu singen, die wie eine Rose ist. Und ich habe das Gebet gesungen, was so viele schon vor mir gesungen haben: „Gott, lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“

Ja, das habe ich! Und das hätte ich mir ohne ein solches Vorbild eines undercover personal trainers, wie es der oben beschriebenen Mann namens Samoth für mich ist, wohl nie so schnell getraut.

Das beschenkt mich. Mitten in allen Widrigkeiten dieser Tage. Wiiie schön!