…mein Tränenkrüglein.
Mein Tränenkrüglein. Da steht es vor mir. Ich habe es hervorgeholt in den letzten Wochen. Habe es gefüllt mit meinen Tränen. Eine kleine Rose hineingepflanzt.
Warum ist mir mein Krüglein so bedeutsam?
Ich habe mich zurückgezogen in mein Schneckenhaus. Es ist Schneckenhauszeit für mich. Immer wieder gab es in meinem Leben solche Schneckenhauszeiten. Zeiten, in denen ich mich zurückzog, Kontakte, Begegnungen mied, das Reden einstellte. Nur schweigen mochte. Mein Schneckenhaus. Mein Schutzraum. Hier konnte meine Seele aufatmen, hier konnte ich sein, ohne sein zu müssen. Zusammengerollt lag ich still und durfte spüren, wie immer wieder ganz langsam meine Kraft zurückkam. Dann streckte ich meinen Kopf aus meinem Schneckenhaus, bewegte vorsichtig meine Fühler und traute mir eine neue Begegnung im Außen zu.
Doch jetzt ist es anders. Ich fühle mich allein. Zurückgeworfen auf mich selbst. Mir selbst auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dieses Mal habe ich die Schneckenhauszeit nicht frei gewählt. Und obwohl ich tief verkrochen in meinem Schneckenhaus sitze, fühlt es sich nicht geborgen an. Ich fühle mich wie gehäutet. Als hätte in den letzten Monaten jemand an meiner Haut gerissen. Nicht ruckartig, nein, aber doch Stück für Stück, so habe ich das Gefühl, ist sie mir abgerissen worden. Wund bin ich. Verletzlich. Mehr denn je.
Es sind nicht mehr die bedrückenden Bilder, die beängstigenden Nachrichten, die mich im Innersten berühren wie noch am Anfang der Pandemie. Sie gleiten inzwischen an mir ab, ich nehme sie wahr wie durch einen matt gewordenen Spiegel, seltsam unwirklich. Ich sehe sie, ich höre sie, doch ich verstehe nicht , was sie mir sagen wollen. Die Zahlen werden groß und bunt, schweben vor meinem inneren Auge, als tanzten sie, doch ich kann sie nicht erfassen. Sie erreichen mich nicht. Meine Seele scheint betäubt.
Nein, es sind kleine Momente, die mich jetzt treffen und zu Tränen rühren. Die mich weinen lassen, weil keine Haut, keine schützende Hülle mich mehr umgibt.
Da schickt mir eine Freundin ein Bild eines alten Meisters per Mail und ich weine, weil das Bild so seelenberührend schön ist und ich so gerne mit ihr in einem Museum schweigend davorstehen würde. Da liegt ein Brief in meinem Briefkasten, von einer alten Frau geschrieben, mein Name in zitternden Buchstaben, und ich weine, weil ich mich so sehr freue, dass sie noch lebt, es ihr gut geht, sie schreiben kann. Da gibt mein Laptop ein leises Pling von sich, eine neue E-Mail hat mich erreicht. Kein Spam, keine Werbung. Ein liebevoller Gruß aus der Ferne, und ich weine.
Diese Momente sind es, die mich durch meine Schneckenhausschutzschicht erreichen und berühren. Und während ich diese Worte schreibe, spüre ich in mir Dankbarkeit aufsteigen. Dankbarkeit, dass ich berührbar bin. Dass ich weinen kann vor Liebe. Meine Tränen zeigen mir, dass ich am Leben bin. Ich lasse sie fließen, halte sie nicht mehr zurück, ich gebe mich hin und spüre, wie ich weich werde. Sie sind wertvoll. Meine Tränen sind wertvoll und schön. Ich sammle sie, fange sie auf in meinem Tränenkrüglein. Mein Tränenkrüglein, wie gut ist es, dass ich es habe. Geschenkt von einer alten Freundin, bepflanzt mit einer zarten Rose.