Monika, 55, lebt in einer Landgemeinde, auf einem Bergbauernhof, den sie ökologisch bewirtschaftet, liebt den Blick über die Täler, Kinder sind erwachsen und gehen eigene Wege, in unterschiedlichen Rollen als Redakteuerin eines bäuerlichen Magazins, Biografiearbeiterin, Kabarettspielerin, mit Liebe zur Sprache und zum künstlerischen Ausdruck mittels Farben und Stiften

Tagebuch

Einem spontanen Impuls folgend hole ich im Mai 2020 eines meiner kostbarsten Notizbücher aus dem Regal. Fische es dort aus einem Winkel mit dem Stapel an Notizbüchern, die mir besonders gut gefallen. Die Zeit fühlt sich für mich so bedeutungsvoll an, dass ich dieses handgebundene Stück verwenden will als Corona-Tagebuch. „Für besondere Augenblicke“ – unter diesem Gesichtspunkt hatte ich beim Buchbinder das Exemplar erstanden. Grün kaschiert. Der Umschlag erinnert mich an  gepresste Bananenblätter. Bananenblätter wie ich sie in Südamerika gesehen habe, damals vor einundzwanzig Jahren in Ecuador. Gesehen an Bananenstauden im Dschungel entlang der Strecke zum Meer. – Im Regenwald  erlebte ich erstmals auch völlige Finsternis: in einer Hütte ohne Glühbirne.

Das Tagebuch soll mir dabei behilflich sein, Licht in die Corona-Angelegenheiten zu bringen. Einen Lichtkegel auf den Stillstand werfen, auf die Veränderungen, auf meine Gefühle, auf meine Eindrücke, die ich jeden Tag zu Papier bringe.  Dazu nutze ich eine Füllfeder. Sie gleitet geschmeidig über die glatten, sahneweißen Seiten. Manchmal klebe ich geblümtes Washi-Tape als schmückendes Element an den Rand der linken Seite. Einen Streifen senkrecht geklebt. Das wirkt auf mich ein Stab, ein Stock, auf den ich mich stützen kann bei schwankenden Gefühlen. Ich finde Halt im Schönen.

Mein Tagebuch empfinde ich wie eine wohlwollende Freundin. Es ist da, wenn ich sonst keine Gesprächspartnerin, keinen Gesprächspartner in meiner Umgebung ausfindig machen kann, weil jede und jeder sich in seinen und ihren vier Wänden verkriecht. Beschäftigt mit den Beschränkungen, die ihn oder sie betreffen. Mein Tagebuch erlebe ich jederzeit gesprächsbereit, ob Tag oder Nacht, selbst wenn ich wütend, verärgert oder verzagt bin. Selbst wenn ich um zwei Uhr morgens schlaflos im Bett mich wälze, öffnet es seine Seiten für mich und ich kann meinen Kopf entlasten, indem ich schreibe. Kann abladen, wie ein LKW der seine Fuhre Schotter auf den Weg kippt und der Schüttgut später für die Fahrbahn als Unterlage dient. Dass Tagebuch nimmt meine Worte und Sätze auf, ohne zu kritisieren, ohne zu maßreglen, ohne zu zensieren. Es saugt meine Worte tintenblau auf. Ich darf dort jedes Emfpinden beschreiben, ich darf alles sagen, ich darf auch das Unaussprechliche oder das Schreckliche aufs Papier fließen lassen, wie Tränen über meine Wangen.

Das erste Corona-Tagebuch ist voll. Vollgetintet. Vollgeschrieben und vollgezeichnet, denn ich erlaube mir auch,  darin kleine Zeichnungen anzufertigen. Ein Bild sagt mehr als tausend Klagen. Inzwischen habe ich drei weitere Tagebücher begonnen und gefüllt.  Aktuell bin ich mit dem fünften liiert. Fünf, die Zahl meiner Hausnummer. Fünf, die Zahlen meiner Finger an einer Hand. Fünf, die Zahl meiner Lieblingsschüsseln aus weißem Porzellan.

Das aktuelle liegt griffbereit in Reichweite, im Schreibtischschrank. Verborgen unter anderen Büchern. Werke bekannter oder weniger bekannter Schriftsteller, bei denen ich Trost oder Erbauliches suche. Niemand außer mir wird dort unter den Büchern stöbern, höchstens die Enkel kommen auf die Idee, Großmutters Küche zu erforschen, die Türen zu öffnen und ins Regal zu spähen. Lesen können sie nichts. Noch nicht.

Ein Leben ohne Tagebuchschreiben erscheint mir jetzt gar unmöglich. Deshalb legte ich sogar einen Vorrat an Notizbüchern an: Zivilschutz für die Seele. Hier am Land zu leben bedeutet, es gibt keinen Buch- und Geschenkladen in der Nähe. Es ist auch keine Papierhändlerin in der Region ansässig, wo ich rasch Nachschub besorgen könnte, nur in der nächstgelegenen Stadt.

Einem spontanen Impuls folgend schreibe ich Corona-Tagebücher. Ich hinterlasse für meine Enkelkinder ein Zeitzeugnis. Mein Geschenk als Großmutter.