Daniela, 49 Jahre, Physiotherapeutin,, wohnhaft in einem kleinen Ort im Südwesten Deutschlands

Wärest Du doch nur nicht so weit weg…

Liebe Freundin,

ich habe noch immer Nachhall von unserem Telefonat am Freitagabend.

Es tut mir so im Herzen weh, Dich in Deiner jetzigen Situation wahrzunehmen.

Deine permanenten Schmerzen, gegen die das Schwimmen im warmen Wasser und die regelmäßigen Gymnastikeinheiten in der Gruppe das Mittel der Wahl waren, sie erträglicher zu machen. Seit nunmehr einem Jahr musst Du diese Qual jetzt aushalten, ohne Linderung.

Deine Panikattacken, wenn Dein Papa kollabiert, der von einer lebensbedrohlichen Situation in die nächste verfällt. Erst all die Jahre das Sauerstoffgerät, die hohen Blutzuckerwerte, danach die Krebsdiagnose, jetzt die Aufregung mit dem Unterzucker und seine immer weiter voranschreitende Hilflosigkeit.

Dazu kommt die Erkrankung Deines Bruders, der Dir jetzt noch weniger Unterstützung geben kann, als er es ohnehin getan hat.

Wenigstens konntest Du die meiste Zeit aus dem Homeoffice arbeiten. Ein kleiner Trost trotzdem, denn so musstest Du unseren Adoptivopa Edi nicht allein lassen in seiner Not und mit seinen daraus resultierenden Ängsten.

Wärest Du doch nur nicht so weit weg.

Du hast mir von Deiner Tante erzählt, die in ihrem betreuten Wohnen gut aufgehoben ist, und sich trotzdem beklagt, dass ihre sozialen Kontakte so weit heruntergefahren sind. Wütend bist Du. Weil Du siehst, wie gut es ihr geht, und wie hart es Dich getroffen hat.

Du kannst – so sagst Du – das Gejammer der Leute nicht mehr hören. Kein Verständnis hast Du für die jungen Menschen, die es leid sind, nicht mehr feiern zu dürfen und ihre Freunde nicht mehr sehen zu dürfen. Du bist verärgert gewesen, als ich Dir von Nachbarsjungen erzählt habe, der sich mit ein paar Mädchen treffen wollte. Auch er ist allein in seiner 50qm-Wohnung, arbeitet jeden Tag acht Stunden in der Bank, studiert nebenher, wurde kurz vor dem ersten Lockdown von seiner langjährigen großen Liebe verlassen und muss mit seinem Liebeskummer alleine klarkommen. Auch ihm geht es schlecht, weil er nirgendwo hinkann. Und wie sehr man in solchen Situationen eine liebevolle Umarmung genießt, die verboten ist – das weißt auch Du.

Vielleicht ist es ja auch in Dir irgendwo so tief verschlossen, dass Dich seit einem Jahr niemand mehr in die Arme genommen hat, aus Angst, Deinen Vater anzustecken – ich bin sicher, dass auch Dir diese Geste fehlt. Es fühlt sich so an, als wäre Dein Bedürfnis danach so sehr überschattet, von all der Verantwortung, die jetzt auf Dir lastet. Zu allem Unglück kommt auch noch der so plötzliche Tod Deines Arbeitskollegen dazu, der Einzige, der außer Dir noch einiges an Wissen in Deiner Abteilung hatte.

Noch mehr Verantwortung, die auf Dir lastet.

Das alles tut mir so unendlich leid.

Dein Rückzugsort ist durch Grenzen und Einreise bzw. Ausreiseverbote unerreichbar. Die Straße zur Deiner Erholung und Deiner Möglichkeit durchzuatmen ist gesperrt. Die Sorge um Leitungen und Heizungsrohre und was alles nicht winterfest gemacht werden konnte – ja, die hast Du auch noch im Hinterkopf.

Trotz aller Unbilden, die sich gerade in Deinem Leben auftürmen, war ich doch sehr erschrocken über Deine Bitterkeit. So kenne ich Dich nicht. In all unseren – unfassbaren – 31 Jahren Freundschaft gab es nie solch eine Traurigkeit bei Dir. Ich bin mir ganz sicher, dass wir vor fünfundzwanzig Jahren auch Mittel und Wege gesucht hätten, zusammenzukommen, so wie es die vielen jungen Leute heute auch versuchen.
Ein wenig wünsche ich mir, dass ganz bald wieder ein winziger Bruchteil dieser Leichtigkeit in unsere Leben zurückkehrt.

Manchmal möchte ich Dir zurufen, lass unseren lieben Adoptivopa Edi gehen. Lass Ihn aus Deinen Armen sanft hinübergehen, wo er von seiner geliebten Helga in Empfang genommen wird. Ich weiß sicher, dass sie ihn dort erwartet.

Aber das darf ich nicht sagen – naja – andererseits, wer sollte es denn sonst dürfen?

Deine Sorgen sind sofort dann meine Sorgen, wenn Du mir von ihnen erzählst, sie mit mir teilst. Das darf sein. Dafür sind Freundinnen da.

Ich habe Dich lieb, Du wichtiger, wichtiger Mensch und wertvolle Wegbegleiterin.

Deine Freundin