Dagmar, 60, aus dem Schwarzwald, wohnt in einem alten Bauernhaus, arbeitet im Kindergarten, hat drei erwachsene Kinder

Die Zeit ist langsamer geworden

Corona- Zeit vergeht langsam.

„Klar, jetzt schlagen wir uns schon ein Jahr lang mit dem Mist rum und es ist immer noch kein Ende in Sicht. Das dauert alles viel zu lange,“ sagst du jetzt vielleicht. Ja, das auch. Aber das meine ich nicht. Ich meine etwas anderes. Die Zeit an sich ist anders. Sie fühlt sich anders an; tiefer, weitschweifiger ausgedehnter, wundersamer, manchmal nachdenklicher, manchmal trauriger, manchmal voll von intensivem Glück. Sie hat eine andere Qualität als die „Normalzeit“: die Qualität der Langsamkeit.

Schon am Morgen beginnt der Tag langsamer. Es klingelt kein Wecker für mich. Ich wache auf, weil Geräusche von draußen an mein Ohr klingen. Es ist schon hell geworden, wird so etwa acht Uhr sein. Die Hühner gackern im Stall, eines hat wohl schon ein Ei gelegt. Die Katze faucht vor meinem Fenster eine Rivalin an oder einen zudringlichen Kater. Dann höre ich beide über die Veranda poltern. Katzen können trotz ihrer Samtpfoten ganz schön laut sein. Durchs offene Fenster höre ich die Nachbarin reden. Ist sie schon so früh im Garten? Im Winter? Der Schneepflug rumpelt durch die Straße. Ich zieh die Decke fester um die Schultern – puh ist das kalt draußen, aber im Bett schön kuschelig-gemütlich – und lausche den Geräuschen. Manchmal kommen Gedanken. Sie ziehen vorbei. Ein paar Fetzen von meinem Traum wabern schemenhaft herum. Ich krieg sie nicht mehr zu fassen. Der Traum entschwindet mir. Die Kirchturmuhr schlägt, nur einmal. Oh, dann ist es schon halb neun. Wollte ich nicht um acht aufstehn? Ach, ist das nicht egal? Halb neun ist auch ne gute Zeit. Ich recke und strecke mich noch mal genüsslich und steig aus dem Bett.

So beginnt ein Corona-Zeit-Morgen. Ähm, was für ein Tag ist heute eigentlich? Ach ja, Dienstag.
Und hier ist ein Normalzeit- Dienstag:
Der Radiowecker fängt um 6 Uhr 40 an zu dudeln. Och, jetzt schon! Ich steh gar nicht gerne so früh auf. Ist ja noch dunkel, und so kalt draußen. Ich trödele noch ein bisschen rum bis zehn vor sieben. Jetzt aber raus aus dem Bett! Und nun geht´s Zack-Zack, denn um 8 muss ich im Kindergarten auf der Matte steh´n. Anzieh´n, Feuer im Ofen machen, Tee kochen, Tiere füttern, Müsli mit Obst zubereiten, eine Portion esse ich gleich während ich weiterarbeite, die andere nehme ich mit, kurzer Blick in die Zeitung, noch ne Scheibe Brot zum Mitnehmen, zwischendurch ein paar Schlucke Tee, den Rest in die Thermoskanne, alles in den Rucksack, Zähne putzen, Schuhe an, Jacke an, Autoschlüssel, dem Nachbarn ein schnelles „Gun Morgen“ zurufen und los. Das läuft wie am Schnürchen. Jeder Handgriff sitzt. Tausendmal erprobt. Fünf Minuten Autofahrt, 8 Uhr. Die Kinder kommen angelaufen. „Hallo Dagmar. Dagmar ist da!“ „Guten Morgen Max!“ „Hallo Lena, ein schickes Kleid hast du heute an.“ „Hey Tom! Alles klar?“ Ich freu mich, alle wieder zu sehen. Wir haben einen ereignisreichen Vormittag. Bei 20 Kindern in der Gruppe und zwei Erzieherinnen, da ist was los! Ich arbeite bis halb zwei im Kindergarten.

Am Dienstag ist nachmittags Kinderturnen vom Sportverein. Meine beste Freundin und ich leiten schon seit vielen Jahren die Kindersportgruppe. Also schnell nach Hause, kochen und essen, dann geht´s ab in die Sporthalle. Na, da sind ja schon meine Sportfreunde. Es ist nicht Turnen wie im Leistungssport, was wir machen. Bei uns steht die Freude an der Bewegung im Vordergrund. Wir rennen, springen, klettern und spielen. Mit den Geräten bauen wir uns spannende Abenteuerlandschaften. Nach der Stunde sind alle verschwitzt und verstrubbelt und wohltuend k.o.

Kleiner Tratsch mit meiner Freundin, dann muss ich nach Hause. Ausführlich die Tiere versorgen, Küche aufräumen, Wäsche aufhängen, während des schnellen Abendessens Vokabeln lernen, denn um 20 Uhr ist Italienischkurs.

Um 22 Uhr wieder daheim. Hui, war das ein Tag! Ein Tag wie ein Wirbelwind! Weißt du, da läuft was. Da ist Bewegung! Die Zeit selbst kommt in Bewegung, nimmt Fahrt auf, wird schneller und schneller, rasend schnell! Und du reitest auf dem wirbelnden Strom der Zeit, hebst ab, lässt dich mitreißen! – Und eh du dich versiehst, – ist der Tag schon vorbei.

Doch jetzt ist Corona- Dienstag. Ach, Dienstag oder Montag oder Donnerstag ist ganz egal.
Ich frühstücke gemütlich und lese in der Zeitung. Die ist sehr dünn. Noch eine Tasse von dem guten Tee, ist ein echter Darjeeling, First Flush. Hm, ich genieße die zarte Note des Tees. Schmeckt ein bisschen nach Frühling. Bei uns hat es frisch geschneit. Es ist richtig schönes Wintertraumwetter. Die Sonne erstrahlt und bringt den Schnee zum Funkeln, und es ist knackig kalt. Ich könnte nachher meine Langlaufski nehmen und auf die Loipe gehen.

Ich geh die Tiere füttern. Ich schaue den Lämmern zu wie sie im Stall herumspringen. Sie springen mit allen vier Beinen gleichzeitig hoch und drehen und verrenken sich in der Luft. Das sieht so lustig aus! Eins fängt an und die anderen machen mit. Dann rennt eines los und die anderen vier hinterher. Kinder, also kleine Menschen, können auch so sein, so unbekümmert fröhlich und lebendig.

Vor der Garage hat sich der Schnee aufgetürmt. Ich hole die Schneeschaufel und räume die Einfahrt frei. So, jetzt noch vor der Haustür. Der Nachbar schippt auch grad Schnee. Er räumt einen Parkplatz für seine Frau frei. Er ist seit kurzem in Rente, aber wegen Corona konnte er schon ein halbes Jahr früher zu Hause bleiben. Jetzt haben wir Zeit für ein Schwätzchen. Wir reden über dies und das bis wir kalte Füße bekommen. Noch eine Tasse Tee am warmen Ofen, dann schnappe ich die Langlaufski. Als ich mit dem Auto durch das Nachbardorf fahre, sehe ich einen mir bekannten Schneeanzug auf einem Schlitten sitzen. Hey, das ist ja mein kleiner Freund Max, der in dem blauen Schneeanzug steckt. Sein Vater zieht ihn. Der Vater arbeitet wegen Corona im Home-Office und wechselt sich mit seiner Frau in der Kinderbetreuung ab. Gerade ist seine Frau mit dem älteren Sohn, der nun an Papas PC Home- Schooling macht, zu Hause und erledigt dabei am Laptop ihre eigenen Aufträge. Der Vater arbeitet am Nachmittag und abends. Max freut sich, dass sein Papa jetzt so oft zu Hause ist und für ihn Zeit hat. Mit Papa rodeln, das gab´s sonst nur am Sonntag! „Viel Spaß, macht´s gut!“ Und ab ziehen sie auf den Sonnenbuckel. Wie gut, dass meine Kinder schon erwachsen sind, denk ich, muss ich keine solche Zeitakrobatik für die Familienmitglieder veranstalten.

Auf dem Parkplatz an der Loipe stehen recht viele Autos, aber ich finde ohne Problem einen Platz. Es ist mittlerweile bald 12. Soll ich die kleine Runde nehmen? Dann wäre ich in etwa ´ner Stunde zurück, würde heimfahren, was kochen und könnte noch zur späten Mittagszeit essen. Als ich noch so überlege kommen zwei Bekannte aus dem Sportverein auf ihren Skiern. Sie sind noch außer Atem, haben gerötete Gesichter und strahlende Augen. „Das sind super Verhältnisse heute. Die Loipe ist frisch gespurt, es läuft fantastisch und da oben hast du eine wunderbare Sicht auf die Alpen!“ Damit ist meine Wahl getroffen. Ich nehme die längere Runde, die Maierskopfspur. Der mehrere Kilometer lange Aufstieg bringt mich trotz der Minusgrade in´s Schwitzen. Dann führt die Spur weit oben am Hang des Maierskopf entlang. Zuerst habe ich eine wunderbare Sicht nach Westen. Ich seh´ hinunter auf die Rheinebene. Nach Norden zu kann ich jenseits der vorderen Schwarzwaldhöhen einen Teil von Freiburg ausmachen. Gerade vor mir liegt Müllheim und drüben auf der französischen Seite die Peugeot- Fabrik und das Atomkraftwerk Fessenheim sowie die kleinen elsässischen Dörfer. Dahinter, ebenfalls tief verschneit, die Vogesen mit dem Grand Ballon. Dort könnte man auch schön Skilaufen. – Ach nein. Geht ja nicht wegen Corona. Die Grenze ist doch zu.

Die Loipe steigt weiter an und führt über den Bergkamm auf die südliche Seite des Hanges. Zunächst geht es durch einen niedrigen Wald. Hier gibt es Auerhähne. Schilder mahnen, den Weg nicht zu verlassen, um das Wild zu schützen. Der unberührte Schnee im lichter werdenden Wald glitzert verführerisch in der Sonne. Die einsamen Wege und Lichtungen im weißen Pulverschnee locken die stillen Geheimnisse des Waldes zu entdecken. Aber ich bleibe natürlich brav auf der Spur. Es läuft sich auch besser hier, denn neben dem festgewalzten Weg würde man bis über die Knie im lockeren Schnee versinken.

Da vorne eröffnet sich der Ausblick nach Süden. Wow! Tatsächlich, die gesamte Alpenkette! Sie erstreckt sich über die gesamte Linie des Horizontes. Außer mir ist hier niemand unterwegs. Ich ziehe die Ski ab und setze mich mitten auf dem Weg auf Ski und Handschuhe um die Landschaft zu bestaunen. Die Sonne senkt sich bereits langsam und bescheint die verschneiten Gipfel von Westen. Genau mir gegenüber, das müssten die Berner Alpen sein. Ja, da ist doch die finstere Nordwand des Eiger, und daneben leuchten sonnenbeschienen der Mönch und die Jungfrau. Wie nah sie erscheinen! Ich sehe sie ganz deutlich. Ich folge mit den Augen der Bergreihe nach links. Und da, das ist sicher der Säntis, ziemlich weit im Osten. Der sieht so pyramidenförmig aus und hat einen Turm, wie ich weiß. Einen Turm kann ich nicht erkennen, aber ich habe auch kein Fernglas dabei. Dann wandert mein Blick die Linie der Gipfel entlang wieder nach rechts. Nach Westen zu scheinen sich die Berge der Alpen zu entfernen. Sie werden kleiner und verschwinden fast schemenhaft im Blaugrau des Horizonts. Aber da, weit im Südwesten hebt sich ein Gipfel noch gut erkennbar aus dem Dunst hervor: Der Mont Blanc! Wow! Den habe ich vom Schwarzwald aus noch kaum gesehen, nicht mal vom Feldberg! Da braucht man wirklich klare Sicht. Er sieht trotz der großen Entfernung so majestätisch aus.

Wie schön das alles ist! Wunderschön! Und so dicht vor meiner Haustür. Ich bräuchte nicht mal ein Auto um hierher zu kommen. Ich muss mir nur die Zeit dazu nehmen. Ganz einfach. Zeit zum Laufen. Zeit zum Verweilen. Zeit, um die Schönheit in aller Ruhe zu betrachten. Zeit zum Genießen. Zeit um die Zeit zu vergessen. Zeitlos glücklich. Ich könnte ewig so sitzen und den fernen Bergen zuschauen wie sie langsam ihre Farben verändern. Die unteren Ränder werden dunkler. Die Schatten wachsen von der linken Seite her und vereinen sich mit dem aufsteigenden dunklen Nebelgrau. Auf der Westseite erstrahlen die hellen Schneefelder noch einmal im Sonnenschein goldig gelb. Bald werden nur noch die rosigen Bergspitzen zu sehen sein.

Ich fange an zu frieren, hab einen nassen Hintern gekriegt. Hatte ich gar nicht gemerkt. Nun muss ich halt doch weiter. Von hier aus geht es bergab. Noch einige Male kann ich zwischen den Bäumen hindurch einen Blick auf die Alpen erhaschen. Dann kommt eine schnelle lange Abfahrt. Hurtig gleiten die Ski in der Spur über den Schnee. Hui, saust der kalte Wind um die Ohren. Steilkurve an einer schnuckeligen kleinen Hütte vorbei, eine lange Gerade, und da ist auch schon wieder der Parkplatz. Das ging jetzt echt schnell!

Mittagessen gibt´s heute Abend. Vielleicht lege ich mich nachher, wenn ich die Tiere versorgt habe, in die Badewanne mit meinem duftenden Lieblingsschaumbad. Dazu höre ich Musik. Ich habe noch so viel Zeit von diesem wunderschönen Tag übrig: Einen ganzen wunderschönen Abend.

Und weißt du was?
Morgen kann wieder so ein herrlicher Corona- Langsamzeit- Tag sein!