Anny, 44 Jahre aus Berlin, zur Zeit in Kurzarbeit, lebt allein mit ihrer 9-jährigen Tochter und ihrer Katze

Ängstlich – Mutig

Wie begegne ich dem Leben? Und wie geht es mir dort? In den letzten Monaten fühle ich mich oft ängstlich, eingeschüchtert von der vielen Bedrohung da draußen und auch von Erfahrungen. Ein ängstlicher Schritt ist klein und vorsichtig. Er geschieht in der Befürchtung von etwas Schlimmem oder in der Erinnerung an etwas Schlimmes. Genau genommen hält er viel zurück, weil er soviel wie möglich wissen möchte bevor er gemacht werden kann. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das kein gutes Gefühl.

Die Begegnungen in der Ängstlichkeit sind gefärbt von einem Unwohlsein und einer tiefen Verunsicherung. Ich begegne dem Leben mit Zurückhaltung. Ich halte mich zurück, wenn ich ängstlich bin. Was steckt für ein Sinn im ängstlich sein? Es kann mich beschützen vor Bedrohungen und Gefahr. Die Vorsicht, die sich einstellt in der Angst schärft die Sinne und bringt mich in die richtige Haltung, um schnell reagieren zu können, wenn die Gefahr droht. Es ist also ein situativ-sinnvolles Gefühl, das mir in besonderen Situationen dienlich ist und kein sinnvolles Grundgefühl für den Dauereinsatz. Das würde ja bedeuten, dass das ganze Leben eine Bedrohung ist vor der ich mich wappnen muss. Sicherlich kann man sich auch so zum Leben stellen. Jedoch widerspricht das zumindest meiner Überzeugung, dass das Leben, mein Leben, an sich bereits eine Zustimmung, eine Bejahung ist und damit niemals eine ängstliche Grundhaltung verdient hat. Das gibt mir zu denken.

Habe ich mich von der Pandemiepanik davon tragen lassen?

Es ist doch leicht, sich in dieser Zeit von der Angst mitnehmen zu lassen. Aber wo ist der Mut? Was sagt der Mut dazu? — Der Mut hat wahrlich eine ganz andere Energie. Es ist eine kühne Neugier, die ich hier verspüre. Sofort verändert sich mein Körpergefühl. Ich werde regelrecht abenteuerlustig in Verbindung mit dem mutig sein. Dieser Blick beginnt sich zu lohnen, denn mir wird bewusst, dass Gefühle sich auch verändern lassen. Auch wenn die Angst dominanter zu sein scheint, ist der Mut nie fort. Er erscheint sobald ich meinen Blick auf ihn lenke. Mutig sein heißt sich nicht mit dem Status Quo zufrieden zu geben und neugierig zu sein. Mutig sein heißt auch zu hinterfragen und sich an, vor und über Grenzen zu bewegen. Es ist ein ausdehender Impuls, der in die Erweiterung strebt. Auch im Angesicht der Ungewissheit folgt der Mut der eigenen Überzeugung.

Was ist der Sinn von Mut? Wozu ist er da? Ich glaube, ohne Mut gibt es keine wirkliche Entwicklung. Mut ist ein Motor für Erweiterung. Wenn ich oder wir an einer Grenze stehen, geht es erst dann weiter, wenn der oder die Erste mutig ist und voran geht. Es ist also auch ein eher situativ-sinnvolles Gefühl, das in chancen-schwangeren Momenten, den Kick zum losgehen gibt. Aber ist es ein gutes Grundgefühl? Ich stelle fest, dass ich mich wahrscheinlich in der Mitte am besten aufgehoben fühle. Und ich bemerke, dass es mich in den letzten Monaten immer eher in die Angst gedrängt hat. Mutig sein bedeutet zum Beispiel auch zu hinterfragen. Und das war schon lange nicht mehr so schwer wie in dieser Corona-Zeit.

Wie möchte ich also dem Leben entgegen treten? Mutig oder ängstlich? Wohl eher in einer Offenheit und Flexibilität, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung und stets im Bewusstsein mich nicht in einem der beiden Extreme zu verlaufen. Und so hilft mir dieses Aufschreiben dabei festzustellen, dass es mir gut täte, wieder ein paar Schritte aus der Ängstlichkeit in Richtung Mut zu laufen.