Ich er-innere mich: Noch vor gut einem Jahr lebte ich mein stilles Leben in einer mich umgebenden lauten Welt. Nicht dass ich mich treiben ließ oder Augen und Ohren vor den gesellschaftlichen Themen verschlossen hätte. Nein, das nicht. Ich meldete mich zu Wort, mischte mich ein -auf meine Art- und ging, weil es mich drängte, mit „Fridays for Future“ und „Omas gegen Rechts“ auf die Straße.
In einer von Extraviertieren beherrschten Welt als introvertierter Mensch zu leben, daran hatte ich mich längst gewöhnt. Ich verließ mich auf meine Art zu fühlen und zu denken, traute meinen Informationsquellen und meiner eigenen Art, Entscheidungen zu treffen. In den aller seltensten Fällen war ich mainstream-tauglich. Aber ich konnte mich auf mein Rückgrat verlassen. Eine friedliche Koexistenz war das zwischen dem Außen und meinem Innen.
Dann kam Corona. Eine so fremde Realität stülpte sich mit einem Mal über das Außen und Innen und brachte von heute auf morgen alles durcheinander. Eine tsunamiartige Gedanken-, Informations- und Fragenflut des Außen drohte das Innen zu ersticken. Atmen in den eigenen inneren Räumen wurde zur Überlebensfrage. Was war zu tun? Im eigenen Leben festsitzen, das auf einmal nicht mehr existierte – keine und zugleich die einzige Wahl?…
Gibt es ein Innen im Außen?
Angst nistete sich ein. Nicht so sehr vor der Krankheit, vielmehr war es das schleichende Gefühl, mich selbst zu verlieren und mir nicht mehr trauen zu dürfen. „Wir müssen jetzt alle zusammenhalten!“ Als ob es einem Verrat gleichkäme, sich seine eigenen Gedanken zu machen über dieses aufdringliche Neue, diese unsichtbare Bedrohung, diese urplötzliche Erschütterung des ach so wohlig und wonnig eingerichteten Lebens. Als ob es pure Egomanie wäre, seine innere Welt bewahren zu wollen und sie zu schützen vor der Vereinnahmung durch die kollektiven Denkanweisungen von außen.
Gibt es ein Innen im Außen?
Mit dem Lock-down kehrte eine -anfangs befremdliche- heilsame Ruhe bei mir ein. Das Außen schrumpfte im Zeitraffer zusammen. Es wurde still. Die Einkaufsstraßen lagen eingerollt zwischen ihren Tempeln, geisterhaft zogen menschenleere Züge durch die Landschaft, ein nahendes Ziel vorgaukelnd. Auch der Himmel machte nicht mehr durch Fluglärm und Kondensstreifen auf sich aufmerksam. Ich selbst verabschiedete mich von Radiojournalen und Fernseh-Corona-Talks. Bald kam es mir vor, als würden Außen und Innen ineinanderfließen. War es das neue Außen, das vorgab, mein Innen zu sein? Oder war es mein Innen, dem das neue Außen auf einmal ähnelte?
Gibt es ein Innen im Außen?
Regelmäßig aktualisierte ich meinen Terminkalender. Das hieß nichts anderes, als ein Vergnügen nach dem anderen, eine Verpflichtung nach der anderen, mit dickem Rotstift zu streichen. Dabei klopfte eine immer gleiche Frage bei mir an: Bist du nicht eigentlich viel mehr im Außen, als du das weißt? …
Als Weltenbummlerin packte mich -mitten im Lock-down- massives Fernweh. Ein fernes Außen nahm mich in Besitz. Und ich holte die Fotoalben und Reisetagebücher über die Mongolei, Indien und Westafrika aus dem Regal. Was für Erinnerungsflüge in die weite Welt waren das! Und doch gleichzeitig auch in mein intimstes inneres Zuhause.
Gibt es ein Innen im Außen?
Noch immer und schon wieder leben wir im Lock-down. Noch immer beherrscht uns die unser aller Leben verändernde Pandemie. Sind wir -im Außen geschrumpft- jetzt zum inneren Wachstum „verurteilt“? Werden die schrillen Töne des Einzelkämpfertums verhallen und wir den Gesang der Verbundenheit hören?
Wird sich die Welt nach Corona wieder nach außen stülpen? Wird sie wieder lärmend um Aufmerksamkeit heischen? Und wenn ja, wie gehe ich damit um?
Dieses erste Corona-Jahr hat mich eines gelehrt: Wenn die Welt aus den Fugen gerät, wenn das Außen zu zerbröckeln droht, dann ist es heilsam, sich in seinem gepflegten stabilen Inneren auf- und dort die Krise aus-zu-halten.