Und was ist in der Mitte? Das Jetzt…
Eigentlich bin ich fertig mit meinem Essay. Es ist alles gesagt. In der Mitte ist das Jetzt. Und das Jetzt ist alles, was ist. Eigentlich braucht es keine Worte mehr.
Dennoch brodelt es in mir. Da ist viel, das gesagt werden möchte. Da sind all die Bilder vor meinen inneren Augen von mir an Bord eines Schiffes, weit draußen auf dem Meer, mehr als 1000 Meter Wasser unter mir voller Leben, das verborgen bleibt, und gleichzeitig mein Herz freut: Kraken, Haie, Wale, Rochen- ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich das beglückt. Einmal platschte es plötzlich neben dem Schiffsrumpf und meine Augen konnten kaum dem pfeilschnellen Dahinschießen folgen, mein Verstand war noch langsamer. Da war etwas Größeres und etwas Kleines daneben. Ein Delphinbaby! Noch heute lächle ich, wenn ich daran denke.
Im Moment gibt es kaum ein Schiff mit Passagieren auf dem Meer und ich glaube auch kaum, dass ich an Bord eines Kreuzfahrers zurückkehren werde. Zu groß ist meine Sorge um das, was wir der Welt zumuten mit unserem „Ich will… reisen, fliegen, verwöhnt werden, genießen.“
Corona hat das Undenkbare Wahrheit werden lassen. Die Städte haben geschlossen. Es ist still und dunkel, wo sonst das Leben pulsierte. Kein Kellner deckt Tische ein, kein Roomservice zieht Bettlaken makellos glatt, kein Geschäft lockt mit Sonderangeboten auf Tischen oder Ständern vor den Schaufenstern. Und weil das Undenkbare seit Wochen Wahrheit und Alltag ist, scheint mir das andere Undenkbare, nämlich dass wir dabei sind, unsere Erde derart in ihrem Sein zu stören, dass sie kollabieren und zu Grunde gehen könnte, plötzlich nicht mehr undenkbar.
Das ist neu für mich. Nicht das verstandesmäßige Wissen um den Klimawandel und die Folgen, aber das Fühlen dessen, was nicht im Einklang mit der Natur läuft, das ist neu. Mein Mitfühlen und -spüren ist neu. Ich möchte etwas anders machen, etwas bewirken, hegen, bewahren, stärken. Selbst meinen Garten betrachte ich mit vermehrter Zuneigung. Ich habe stets meine Tomaten gut durch den Sommer gebracht und mich an der reichen Ernte erfreut, aber nun ist da ein neues Bewusstsein für die Kostbarkeit all dessen. Vielleicht ist es weder albern noch übertrieben, von mehr Liebe zu sprechen.
Meine Gedanken an vergangene Reisen, an Familienfeste, an Besuche bei Freunden machen mich glauben, dass ich etwas verloren habe. „Früher war mehr Lametta“ lautet ein Buchtitel und ich denke: „Früher war mehr Leichtigkeit“. Zwischen der Idee, unsere Kinder am anderen Ende Deutschlands zu besuchen und der Umsetzung lagen manchmal nur Stunden. Jetzt begnügen wir uns mit Skype oder Facetime. Ich spüre das Kribbeln des Loswollens, die Sehnsucht nach Nähe, nach Umarmung, nach Lachen und Hand in Hand Gehen. Und ich spüre die Liebe, die in mir ist und darauf wartet, sich im Halten und Umarmen, im auf den Arm Nehmen und im Aneinanderkuscheln ausdrücken zu dürfen.
Zwischen den Gedanken an früher und der sehnenden Vorstellung von dem, was ich möchte, liegt das Jetzt und ich frage mich: Was habe ich in diesem Moment? In einem Moment, in dem ich allein in unserem Wohnzimmer sitze und schreibe; in dem es bis auf Schmatzgeräusche meines Hundes und ein leises Brummen der Heizung still ist. Ich habe Ruhe, Gedanken zum Niederschreiben, Gefühle zum Nachspüren mit allem, das sie im Gepäck haben: mit Erinnern, Sehnen, Liebhaben, Lächeln.
Ich fühle mich bereit für die Zukunft. Für eine behutsame und liebevolle Gestaltung der Welt nach dem Lockdown, der mir nicht nur Stillhalten, sondern auch ein neues, tiefes Spüren gebracht hat.
Ich glaube, ich bin dankbar. Jetzt.