Liebes Du,
ich schreibe dir heute einen Brief. Aber eigentlich schreibe ich mir selbst. Warum auch nicht und ich schreibe heute an mich vor einem Jahr. Das ist lange her. Das ist länger als 12 Monate, viel länger und doch kürzer als 12 Monate, viel kürzer.
Vor einem Jahr war dein Rucksack so schwer, hat dich zu Boden gedrückt, vor einem Jahr bist du auf Windmühlen losgerannt, die vor dir ausgewichen sind und dich ins Leere laufen ließen.
Vor einem Jahr hat sich deine Welt auf den Kopf gestellt und so komisch es klingen mag, der Rucksack ging auf und der Ballast fiel heraus.
Vor einem Jahr hast du nicht gewusst, wie das Leben weitergehen soll? Wohin es weitergehen kann? Wie es weitergehen kann?
Vor einem Jahr haben sich Baustellen aufgetan, rechts und links, oben und unten. Aber jemand hat dir eine Schaufel in die Hand gegeben und du hast einfach angefangen, ohne viel nachzudenken, ohne viel zu fragen, mal rechts, mal links, mal oben und unten. Es ist heute noch immer einiges zu tun, aber die Löcher sind nicht mehr so groß, dafür ist die Schaufel groß geworden.
Vor einem Jahr hat dir das Leben klare Aufgaben gestellt, keine Abweichungen zugelassen, dir aber einen roten Faden in die Hand gegeben, den du auch durch den Tränenschleier hindurch sehen konntest.
Vor einem Jahr war nichts mehr wie früher. Dein Leben wurde umgestellt und das gleich auf zwei Ebenen.
Vor einem Jahr ist dein Papa ins Licht gegangen und hat dich auf Erden zurückgelassen, allein in einer fremd gewordenen, einer angsterfüllten, furchteinflößenden Welt. Er ist einfach ins Licht gegangen und heute kannst du sagen, dass er alles gut, alles richtig gemacht hat, dein Papa. Er hätte die Welt nicht mehr verstanden und du hättest sie ihn nicht erklären können, weil du sie auch nicht verstehst.
Vor einem Jahr war da plötzlich eine große Lücke, ein großer Schmerz. Aber eigentlich war der Schmerz schon früher da, der Schmerz, dass es eine große Lücke geben wird und dass sie nicht mehr fern ist, diese Lücke. Corona ist gekommen und er ist gegangen. Du hättest es lieber umgekehrt gehabt. Aber niemand hat dich gefragt und das Leben hatte einen anderen Plan. Du willst fest daran glauben, dass das Leben einen Plan hat. Das ist dein zweiter Anker, neben der Hoffnung, dass das Leben einen Plan hat und wir alle aus dieser Krise herauskommen und etwas gelernt haben.
Alle reden davon, dass sie ihr altes Leben zurückhaben wollen. Du hättest auch gerne dein altes Leben zurück. Denn das würde bedeuten, dass dein Papa noch auf dieser Welt ist. Du weißt, dass es das nicht spielt. Aber man kann ja davon träumen, sagst du.
Aber sonst? Das alte Leben zurückhaben? Ist das ein guter Plan? Ich habe da meine Zweifel. Sollen wir wieder die alten Fehler machen? Sollen wir wieder den alten Spuren folgen? Nein! Wir sollten mutig sein, neue Fehler machen und neue Spuren. Es gibt sehr viele Baustellen auf der Welt. Wir müssen die Schaufel in die Hand nehmen und endlich anfangen. Vielleicht ist das der Plan? Vielleicht ist Corona der unbarmherzige Wecker, der die Menschheit aufwecken soll? Hören wird diesen Wecker? Leeren wir doch die alten Rucksäcke aus und machen Platz für Neues. Wir sollten, wir müssen nach vorne schauen und uns nicht das alte Leben zurückwünschen, denn das kommt nicht wieder. Das ist Vergangenheit und wird von der Erinnerung verklärt. Wir leben im Jetzt und es ist unser Leben, unser kostbares, zerbrechliches Leben auf Erden, mit Ablaufdatum. Und ich sage zu dir, Kind, mach dir nicht so viele Gedanken, mach dir nicht so viele Sorgen. Das Leben lässt uns leben und wir sollten das Leben leben, bis zum letzten Atemzug. Dein Papa hat es dir gezeigt, wie es gelingen kann, wie man leben kann, bis zur letzten Minute. Er hat gelebt und ist gegangen, aber er bleibt so lange, so lange du lebst.
Vor einem Jahr bist du durch menschenleere Straßen gegangen und dein Herz war leer und schwer.
Vor einem Jahr hättest du so dringend Umarmungen gebraucht, hättest dich so gerne in Arme geflüchtet, in Umarmungen verloren, aber da stand das Virus dazwischen und ließ dich mit deiner Trauer allein.
Vor einem Jahr hast du geglaubt, dieser virale Spuk wird bald zu Ende sein und heute weißt du, der Spuk ist geblieben und stellt nach wie vor die Welt auf den Kopf und die Menschen an den Rand der Existenz. Wohin wird das führen? Was kannst du mir dazu in einem Jahr sagen? Wirst du sagen, wir haben es geschafft, wir haben es gemeinsam, mit vereinten Kräften geschafft? Das Opfer war groß und die Zeit war schwierig. Aber wir haben die Menschlichkeit gerettet und das Virus besiegt, besiegt für alle Zeit. Wir sind gerüstet für die Zukunft und achtsam zu uns und unserer kostbaren Welt. Wir haben endlich unsere Lektion gelernt.
In einem Jahr wirst du das zu dir von heute sagen können? Ich hoffe! Und die Hoffnung ist groß und stark. Du willst, du wirst auf sie aufpassen, auf die Hoffnung, denn sie bringt uns durch diese Zeit, sagst du und am Ende dieser Zeit wird das Leben stehen, nicht das alte Leben, nein, das neue Leben und du weißt aus eigener Erfahrung, ein neues Leben, geboren aus Schmerz und Verlust, kann gelingen.