Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es vor Corona war. Ich habe 2019 einen neuen Job angenommen, der mir wirklich gut gefällt und mich herausfordert. Der Tod meines Partners, der schon länger nur mehr ein Freund gewesen war, hatte zu vernarben begonnen und ich blickte optimistisch in die Zukunft. Die Wohnung habe ich neu eingerichtet und so richtig gemütlich gemacht. Ich habe Gäste eingeladen, gekocht und in einer für mich neuen Weise gefeiert. Es ist mir auch gelungen, mich gesünder und maßvoller zu ernähren als in den Jahren davor. Mein Gewicht war so, dass ich mich wohl fühlte und mir gefiel. Das Jahr 2019 ging zu Ende. Ich war müde, aber auch erfreut beim Jahreswechsel über die schöne Ernte, die ich nach langen Jahren des Abschiednehmens von beiden Eltern und vom geliebten Mann endlich einfahren konnte. Das Jahr 2020 sollte mein Jahr werden! Ich wusste es.
Doch schon um meinen Geburtstag herum im Februar war Corona ein Thema. Der einzige Ball, den ich jährlich mit immer denselben Menschen besuchte, war diesmal ungewohnt schlecht besucht. Die Begrüßungsküsschen fielen aus, vorsichtig nur näherte man sich einander, wenn überhaupt. Viele wollten schon nicht mehr die Hände schütteln. Dann kam mein Geburtstag und mit ihm die letzte Einladung zu einem Essen bei mir daheim. Wir sprachen fast nur über Corona. Was das alles bedeuten sollte, wie es weitergehen würde. Bangigkeit lag in der Luft. An diesem Abend überaß ich mich zum ersten Mal seit langem. Ich konnte nicht einschlafen in dieser Nacht. Mit überfüllten Magen.
In den Tagen danach noch ein letztes Konzert im Wiener Stadtsaal. Es wurde bereits in den Medien angekündigt, dass Veranstaltungen mit über hundert Teilnehmenden gesperrt werden würden. Der große Saal war halb leer. Noch nie hatte ich das so erlebt, und die Band gab eine Draufgabe nach der anderen. Im Wissen, dass es für lange das letzte Konzert sein würde. Und das ist es für mich bis jetzt geblieben. Verunsichert verabschiedete ich mich von meiner Freundin in der U-Bahn. Jede von uns fuhr in eine andere Richtung. Wir wussten, es würde sich vieles verändern, aber nicht, dass wir uns erst im Sommer während des endlich aufgehobenen Lock-downs wiedersehen würden. Auch an diesem Abend ging ich zum Kühlschrank und stopfte Käse und Wurst in mich hinein, obwohl wir ohnehin vor dem Konzert Essen gegangen waren, verwundert und erstaunt in einem fast leeren Lokal auf der Mariahilfer Straße. Kurz darauf kam der erste Lock-down.
Von einem Tag auf den anderen durfte ich nicht mehr arbeiten gehen, war plötzlich in der Wohnung eingesperrt, mit Diensthandy und Zoom-Sitzungen. Und fast rund um die Uhr Erreichbarkeit. Anfangs ging ich morgens vor und dann nach der Arbeit noch jeweils eine halbe Stunde Spazieren, bevor ich mich für Stunden an den PC begab. Eine dauernde Anspannung war in mir, die sich auch durch das Gehen nicht löste. Wie eine Verbrecherin schlich ich mich nach dem Morgenspaziergang in den Supermarkt, um frisches Obst zu kaufen, zu einer Zeit, die den älteren Mitbürgerinnen vorbehalten bleiben sollte. Bloß hatte ich festgestellt, dass es abends kein frisches Obst und Gemüse mehr gab. Ich habe fast drei Wochen lang kaum einen Menschen getroffen. Lediglich anfangs noch im Büro beim Mitnehmen der für die Arbeit nötigen Utensilien, beim Spazierengehen und im Supermarkt, wo ich zwischen 8 und 9 Uhr von manchen älteren Herren in der Einkaufsschlange böse Blicke erntete, weil das ja die Zeit der älteren und gefährdeten Menschen war. Unwirklich kam mir das alles vor. Draußen explodierte ein unvergleichlicher Frühling und drinnen wurden meine Gliedmaßen beim stundenlangen Sitzen vor dem PC kalt.
Ich gewöhnte mir an, um sechs Uhr morgens zu frühstücken, danach meine Runde zu gehen und dann nach dem Heimkommen ein zweites Frühstück zu essen. Zwischen 12 und 13 Uhr dann ein Mittagessen. So richtig zu kochen wagte ich nicht, weil es ja eigentlich Arbeitszeit war. Also aß ich rasch ein Fertigmenü. Danach Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Wie sonst hätte ich Pausen machen können? Ich bin es nicht gewohnt, nichts zu tun. Und ich hätte nur nichts tun können. Ich griff auf die Maxime meiner kriegstraumatisierten Mutter, die als Kind Hungerjahre und Kriegswirren durchlebt hatte, zurück: Essen als Rezept für alles. „Wenn dir fad ist, iss‘ was.“ Ich erinnere mich an eine ihrer Erzählungen über einen Heiligen, der angeblich seinen Zorn zu bewältigen versuchte, indem er ein Stück Zucker in den Mund nahm. Der beste Weg zum Diabetes. Aber das gab es damals wohl noch nicht, da die Menschen überhaupt viel weniger zu essen hatten. Schwarzpädagogische religiöse Vorgaben hatten die Strukturen des Lebens meiner Mutter gebildet. Ihre große Erleichterung, ihr großer Genuss als halb verhungertes Kriegskind war es, Süßes zu essen. Eine ausgezeichnete Bäckerin wurde sie, aber eine schlechte Köchin. Das führte dazu, dass ich mich als Kind durch die wenig erfreulichen Mahlzeiten dennoch hindurch arbeitete, um dann zu den an Liebes statt von ihr angebotenen immer größer werdenden Desserts und Schokoladeportionen vorzudringen. Die wahre Belohnung, die Erleichterung, der Genuss. Mein ganzes Leben hindurch haben mich und meine Schwestern Essstörungen begleitet. Aber ich hatte gedacht, mein Binge Eating halbwegs im Griff zu haben.
Ich war so brav und gehorsam im ersten Lock-down, habe niemanden getroffen von meinen Freundinnen. Zum Telefonieren und Zoomen war ich jedoch nach einem Tag voller Telefonate und Videokonferenzen mit vom Arbeiten am PC geröteten und trockenen Augen zu müde. Ich fühlte mich zunehmend losgelöst von dem, was ich bisher mein Leben nannte. Und so sehr ich sie auch zu hassen begann, die Arbeit, seit sie daheim stattfand – eingesperrt so sehr brauchte ich sie, um ein letztes Stück Normalität für mich zu retten. Nach drei Wochen begann ich, Freundinnen einzeln zu Spaziergängen auf Distanz zu treffen. Mit der Angst, etwas möglicherweise Ungesetzliches zu tun, tat ich das. Aber es tat mir gut. Die Arbeit verlagerte sich teilweise wieder ins Büro, an den Arbeitsplatz zurück.
Aber trotzdem war nichts mehr so wie vorher. Ich gewöhnte mir an, das Heimkommen mit Fernsehen und Streamen, begleitet von Süßigkeiten und Knabberzeug gleichzusetzen. Obwohl der lock-down-freie Sommer eine gewisse Erleichterung bedeutet hatte, ahnte ich, so bleibt es nicht: Die nächste Welle kommt bestimmt. Und sie kam und größere, ja, noch viel größere Ungewissheit mit ihr. Die dunkler werdenden Tage des Winters wurden so zu einer schwarzen Zeit. Denn draußen konnte man nicht allzu lange sein, wenn man wie ich nach einem Meniskusriss, den ich mir in diesen Wochen auch noch zugezogen hatte, auf eine Operation wartet und plötzlich nur mehr kurze Strecken schmerzfrei gehen kann.
Seit dem ersten Lock-down vor zirka elf Monaten habe ich insgesamt dreizehn Kilo zugenommen. Ich fühle mich innen und außen wie geliert. Verzuckert, abgedämpft, betäubt. Habe Angst vor der leeren Wohnung und der Stille, die ich durch Netflix zu vertreiben versuche. Und meine Ängste stopfe ich mir mit Chips und Schokolade vermischt, abends in den Rachen zurück und in den Bauch, wo ich wenigstens von innen her spüre, dass da Grenzen in mir sind. Grenzen der Belastbarkeit, Grenzen, die ich nur mehr schwer halten kann. Doch ich gebe nicht auf. Wenn der Frühling jetzt bald kommt, wird es leichter werden. Ich werde wieder draußen sein und draußen auch sitzen können und mich in der Sonne wärmen. Es werden Blätter und Blüten kommen, es wird duften und die Bienen werden wieder summen. Und irgendwann werde ich wieder richtig zu leben beginnen, um mich davon nähren, anstatt mich mit ungesundem Fastfood und Süßigkeiten zu betäuben.