Beatrice, 62 Jahre, grundsätzlich frohgeMUT, lebt mit Kater Filou in Wien, Coachin & Trainerin, leidenschaftliche Collagen Gestalterin und Schreiberin

Brief an die weise Alte

Liebe alte Weise, weise Alte,

ich nehme Dich wahr als einen Teil von mir, der sich jetzt immer öfter mal bemerkbar macht, wahrgenommen und wertgeschätzt werden will. Manchmal klopfst Du ganz leise an und manchmal höre ich erst Dein lautes und vehementes Klopfen, weil ich Deine leisen Zeichen gerne überhöre.

Mit meinem verspielten, unternehmungslustigen und wagemutigen Kind in mir bin ich noch immer sehr gerne unterwegs und will daher manchmal Deine leisen Signale einfach nicht wahrnehmen. Ist es, weil Du mich auch an die Endlichkeit erinnerst? Wo ich doch noch soviel vorhabe, so viele Ideen im Kopf und auch noch so vieles auf der Liste steht, was schon so lange darauf wartet, ins Leben gerufen zu werden; so wie die Lust aufs Singen, die ich immer wieder ganz stark spüre. Wie gut, dass ich gerade eine Gesangsstunde gewonnen habe. Ich freue mich darauf, meine Lebenslieder zu singen.

Als ich gestern stundenlang durch eine Ausstellung gegangen bin, ganz fasziniert und begeistert, wie auf Wolken schwebend und dann vollgetankt mit Inspiration noch in das Künstlerbedarfsgeschäft gefahren bin, um Papier und Pinsel zu kaufen, da hab ich nicht auf Dich gehört. Du hast versucht, auf Dich aufmerksam zu machen und mich daran zu erinnern, dass uns jetzt auch mal eine Pause ganz gut täte. Doch ich hab lieber auf das innere Kind gehört, dass mir da so fröhlich vor der Nase herumhüpfte und laut rief, „Ach, komm, lass uns jetzt noch dorthin fahren. Das ist so ein wunderbarer Ort. Ich möchte da jetzt einfach gerne hin. Ausruhen kannst du auch später.“ Auf dem Heimweg war ich dann schon sehr müde und er-schöpft und hab mich zuhause dann nur mehr in den gemütlichen Ohrensessel gekuschelt und mich am heißen Tee gewärmt. Rücken und Beine schmerzten schon sehr.

Ich verspreche Dir, dass ich da in Zukunft besser auf uns schauen werde, achtsamer auf Deine Signale reagiere. Ich weiß ja, dass wir diese Momente der Ruhe und Stille brauchen, um neue Kraft zu tanken und um dann auch wieder das aktive Tun voll und ganz genießen zu können. Und ich darf auch mal etwas versäumen, muss nicht überall dabei sein. Obwohl da natürlich auch immer ein bisschen Sorge mitschwingt, nicht mehr dazu zu gehören. Ich weiß noch, wie ich es lange vor mir hergeschoben habe, den Pensionsantrag zu stellen. Denn ich hatte das Gefühl damit abgestempelt zu sein, zum alten Eisen zu gehören. So, jetzt bin ich alt und es gibt keine Abenteuer mehr. Doch ich weiß mittlerweile, dass es da nicht um entweder oder – schwarz oder weiß – geht. Es ist eine Form der Lebenskunst, eine gute Balance zwischen Tun und Lassen zu finden. Und das gilt nicht nur für ältere Menschen.

Ich bin eine Meisterin, die übt und werde lernen, beides zu genießen und das Ausruhen nicht als Faulheit, sondern als Kraftquelle wahrnehmen. Und ich werde stolz sein auf das, was ich noch so alles bewegen kann, wenn ich mir meine Ressourcen gut einteile. Erinnerst Du Dich noch an den letzten Sommer, wo ich richtig Brustschwimmen – also mit dem Kopf unter Wasser – gelernt habe? Da warst Du schon sehr stolz darauf, was wir doch noch so alles auf die Beine stellen können.

Wer rastet der rostet, will uns ein altes Sprichwort weis machen. Nein, das stimmt so nicht. Wer rastet, der regt Körper und Geist an, vital und neugierig zu bleiben.

Liebe weise Alte, Du, ich und das Kind in mir, wir sind doch ein tolles Team. Ich freue mich darauf, weiter mit euch durch das Leben zu reisen und wertschätzend miteinander umzugehen.

Sei ganz herzlich gegrüßt und umarmt.

Ich danke Dir, dass Du Teil meines Lebens bist.

Herzlichst

Deine Beatrice

P.S. Hab Geduld, wenn Du manchmal doch noch etwas lauter klopfen musst, damit ich Dich höre. Du weißt ja, ich lerne noch dazu.

P.P.S. Meine junge Nachbarin meinte heute zu mir, „Du bist die coolste 62jährige, die ich kenne und Du bist mein Vorbild“.