Kaum wage ich es laut auszusprechen. Und doch habe ich es schon nach kurzer Zeit im ersten Lockdown so empfunden: Ich genieße Corona. Ich genieße die Ruhe. Ich genieße die Verlangsamung. Ich genieße die Vermehrung der Zeit. Ihre Ausdehnung, ihre Weite. Ich genieße die herrlich sonnigen Morgenzeiten. Am Frühstückstisch oder auf der Terrasse. Ich genieße das Spazierengehen. Ich genieße meinen neuen Rhythmus. Ich genieße meine Wohnung. Sie ist mir genug. Ich genieße die ausführlichen Telefonate. Besonders mit Menschen, die ich lange nicht gesprochen habe. Ich genieße die Besuche meiner Kinder. Ich genieße es, kaum Termine zu haben. Ich genieße es, nicht auf zugigen Bahnhöfen warten zu müssen. Ich genieße es, in meinem eigenen Bett zu schlafen statt in Hotelbetten. Ich genieße den blauen Himmel, fast frei von Flugzeugen.
Ich genieße die Stille. Ich genieße die Muße. Ich genieße das Zeichnen. Und das Schreiben. Vor allem das Schreiben. Ich genieße das Kochen. Ich genieße das Essen. Ich genieße meinen Morgenkaffee. Und den am Nachmittag. Und den dazwischen. Ich genieße das Naschen. Am liebsten Lakritz. Ich genieße das Briefeschreiben. Ich genieße es, Post von Freunden zu erhalten. Oder auch bestellte Pakete. Ich genieße es, Geld zu sparen. Ich genieße es, mir vom Ersparten Schönes zu gönnen. Ich genieße es, auf meinem iPad zu zeichnen. Ich genieße meine zeichnerische Entwicklung. Ich habe Freude an all den kleinen Figuren, die aus meinem Stift krabbeln. Ich genieße meine vielen Ideen, auch wenn ich nur wenige in die Tat umsetze. Ich genieße die wärmende Wintersonne, die schon den Frühling ankündigt. Ich genieße die Fürsorge meiner Freunde. Ich genieße die wenigen wertvollen Treffen mit meinen Freunden. Ich genieße es, nicht über Corona zu sprechen. Ich genieße den Rückzug. Ich fühle mich wohl in meinem Schneckenhaus.
Genuss ohne Ende. Mir scheint, ich könnte diese Sätze, die alle beginnen mit „Ich genieße…“ ewig fortführen. Ja, gibt es denn gar nichts, was ich nicht mag an Corona? Oh doch, natürlich. Aber schon nach kurzer Zeit war für mich klar: für mich ganz persönlich ist diese Zeit ein Gewinn. Es tut gut, nicht als komisch zu gelten, wenn man sich zurückzieht. Ich darf das. Ich soll es ja sogar. Immer wieder gab es kleine, kurze Phasen des Überdrusses. Zu viel Stille, zu viel Alleinsein. Aber sie währten nie lange. Sobald mein Kopf wieder Futter hatte, das ihm wirklich schmeckte, sobald neue Projekte, neue Aufträge oder eine neue Lektüre mich fesselten, war alles wieder gut.
Nein, ich mache mir keine Sorgen über das, was kommt. Eine veränderte Gesellschaft, eine neue Ordnung, vielleicht eine Weltwirtschaftskrise? Nein, das ist nicht meine Sorge. Nicht heute. Heute genieße ich Corona.
Doch hin und wieder überlege ich, was ich tun möchte in der Zeit danach. Freunde treffen. Mehrere auf einmal. Gemeinsam essen. Erzählen. Gemeinsam lachen. Ans Meer fahren. Urlaub machen. Ein großes Fest feiern. Und viele kleine. Wieder und immer wieder Genuss. Ein anderer Genuss. Noch einmal bewusster. Aber trotz der langen Zeit ohne diese realen Begegnungen wird auch das nach einer Weile wieder normal werden, oder? Nein, ich habe Begegnungen mit Freunden, das gemeinsame Feiern immer schon sehr bewusst genossen. Und dennoch wird es am Anfang besonders sein. Und darauf freue ich mich. Aber bis es soweit ist, genieße ich weiter die Sonnenseiten von Corona.
Ich weiß, ich habe es gut. Ich habe keine existenziellen Sorgen. Ich lebe in einem wunderschönen Dorf inmitten herrlichster Landschaft. Ich habe es so viel besser als die meisten Menschen. Ich lebe großzügig in jeder Hinsicht. Ich bin dankbar für das Privileg, so leben zu dürfen. Ich schäme mich nicht für den Genuss. Spüre ich vielleicht sogar einen Anspruch darauf? Den Anspruch, dass es mir gut gehen darf? Nein, aber ich habe ja immer die Wahl, wie ich meine aktuelle Situation bewerte. Und das allein kann alles drehen. Kann aus Unwohlsein ein Wohlgefühl, aus Groll Entspannung erzeugen. Ist es ein bewusstes Tun? Entscheide ich mich für den Genuss und gegen das Klagen? Ja, ich habe mich vor längerer Zeit dazu entschieden.
Inzwischen ist es eine Art Grundhaltung, obwohl ich natürlich auch mal klage. Seltsamerweise klage ich bei manchen Menschen mehr als bei anderen. Ist mir mein Coronaglück peinlich? Will ich mich mit ihnen solidarisieren? Warum klage ich, obwohl ich diese Zeit so genieße? Ich klage darüber, dass eine Kundin nicht zahlt. Ich klage über Anflüge von Einsamkeit. Ich klage über das Verhältnis zu meiner Mutter. Ich klage über meine Unordnung. Und doch sind das nur verschwindend kurze Phasen, verglichen mit den Zeiten, in denen ich mein Leben genieße. Meine Arbeit, meine große Freiheit, selbstbestimmt leben und arbeiten zu können.
Ja, ich genieße Corona. Ich genieße mein Leben auch jetzt. Gerade jetzt.