Liebe Frau Schönerwelt,
da haben Sie etwas angeschoben! „Schreiben sie das doch mal auf…“ hatten sie leise zu mir gesagt. Warum mich das so trifft, wollten sie wissen. Ich war, wie seit Kindheitstagen gewohnt, zur Zielscheibe der Anderen geworden, die ihren Seelenmüll bevorzugt bei mir abladen. Übertragungen und Projektionen nennen das Psychologen, wie ich nun weiß. Untaugliche Kompensationsstrategien für eigene Probleme. Warum tauge ich so gut als Ziel? Wir hatten es noch nicht herausgefunden.
Diesmal traf mich ein Wohnungsverwalter mit ausgeprägt narzisstischer Persönlichkeit. Arrogant und zielorientiert. „Mit ihnen rede ich nicht!“ Um ihr Projekt durchzusetzen, walzen solche Leute alles nieder. Empathie? Gefühle? Rücksicht? Meinungsaustausch und Konsens? Kollateralschäden? – alles Fremdworte. Wer solch Störung mit sich herum trägt, hat keine Freunde und handelt nach dem Prinzip: Viel Feind´, viel Ehr´! Nichts Ungewöhnliches in diesem Land.
Sie blieben hartnäckig: Warum mich das so triggert? Ich erzählte, dass es mich an die schlimmsten Zeiten erinnerte, als ich ein Nichts war, die eigene Meinung nichts galt, nur eine Wahrheit wahr war und jede Abweichung von der offiziellen Meinung schlimmste Sanktionen nach sich ziehen konnte. Die allgegenwärtige Ignoranz nahm mir die Luft: Ich konnte denken, fühlen oder sagen, was ich wollte – es wurde ignoriert oder sanktioniert.
Stille. Auch diese Antwort genügte Ihnen nicht. „Und was genau meinen sie?“ Als ob Sie es nicht selber wüssten! Sie haben diese Zeiten doch auch erlebt. Um auf den Punkt zu kommen, erzählte ich ein Beispiel: Wie mich mit 18 Jahren der Unterleutnant Peter S. einfach so erschießen wollte. Wie ich überlebte, weil ich auf seine vorgehaltene, geladene und entsicherte Pistole nicht so reagierte, wie er geplant hatte. Weil ich diese Geschichte bis zu diesem Tag nie erzählte, brach ich in Tränen aus. „Dann ist mir das klar. Sie haben eine schwere Retraumatisierung erlitten.“ Pause. „Schreiben sie das doch mal auf…“ Daran hatte ich auch schon gedacht und fügte ein halbes Dutzend Ausreden an, die ich mir bereit gelegt hatte, um nicht mit dem Schreiben zu beginnen. Sie sagten nichts. Ich wusste: Wenn Sie nichts sagen, könnte es bedeuten, dass Sie anderer Meinung sind. Alles muss ich selbst herausfinden – ich weiß.
Nun nehme ich am vierten Schreibseminar teil und zweifle noch immer, ob das Schreiben gut für mich ist. Schreiben strengt an, soviel steht fest. Leistungssport für meine Seele. Das Ergebnis – immer eine Überraschung, nie ein Schlusspunkt. Die Geschichte mit dem Unterleutnant und seiner Neunmillimeter heißt „Schutzengel“. Der Text legte sich über das wahre Geschehen wie eine Decke. Unter den Worten liegt noch immer das Unsagbare, das Unbeschreibliche. Der Text lebt für sich. Hilft mir das?
„Bitte keine Regierungserklärungen!“ – wünscht sich die Schreibfee aus Wien von jedem Text. Bin ich die Regierung? Nein. Könnte ich dieser Regierung etwas erklären? Vergebliche Mühe! Aber ich kann mir selbst erklären, wer mich regiert: Wie einer, als er noch ein kleiner Parteisoldat war, ein Begehr hatte, einen guten Tag wünschte, mir die Hand gab und so tat, als würde er meinen Vorschlägen zuhören. Allmählich verstand ich: Der Mann war beratungsresistent. Abwägen zwischen Alternativen war seine Sache nicht. Zu kompliziert. Er sah aus, wie ein geprügelter Hund. Ein kleiner Junge, der unter Minderwertigkeitskomplexen litt. Wie er nach zähem Ringen endlich einem Vorschlag zustimmte, bevorzugt seinem eigenen. Nur nichts zugestehen. Machtspiele zur Selbstbestätigung. Immer Distanz wahren. König sein, wenigstens mir gegenüber.
Zum Abschluss kam es nie, denn kurz vorher verwies er auf die damalige Lebensgefährtin, die dem zustimmen müsse. Die erschien dann auch, meist später als vereinbart, und ließ keinen Zweifel daran, wer das Sagen hatte: die Königin. Da wollte ich nicht Untertan sein müssen. Nun bin ich es, denn der Mann hat es zum Ministerpräsidenten gebracht. Noch immer das gleiche Spiel: Kaum wagt er einen eigenen Gedanken, einen zaghaft mutigen Schritt oder einen Scheindialog mit der Opposition – dann ruft gleich die Mutti an und weist den frechen Jungen in die Schranken. Sofort will er seine Liebe beweisen und gibt sich am nächsten Tag als harter Hund. Zwangsimpfung – war sein letztes Wort. Für mich eine angekündigte Körperverletzung.
„Sie sind kein Therapeut!“ – warfen Sie in solchen Fällen ein. Stimmt. Darüber bin ich froh. Denen ist nicht mehr zu helfen. „Hören Sie endlich auf, sich Gedanken über die Anderen zu machen und kümmern Sie sich darum, was ihnen gut tut!“ Ich bin dabei. Eine Daueraufgabe. Mein Spielraum wird enger.
Jedes Mal, wenn mein Text geschrieben steht und freundliche Zuhörer findet, denke ich mir: Das reicht jetzt mit dem Schreiben. Ich will ja kein Schriftsteller werden. Was dann? Wie immer, wenn ich Sie um einen Termin bat: Ich weiß nicht mehr weiter.
Damals, als nach dem Tod meiner Frau alles zusammenbrach, haben Sie mich ausgehalten und den Spieß umgedreht: „Sie müssen das einfach aushalten.“ Einfach! Und: „Es gibt keine Abkürzung.“ Ich sei in ein Labyrinth gefallen. Niemand wisse, ob, wann und auf welchem Wege ich da wieder herausfinden werden… Nur eine Möglichkeit gäbe es: „Nicht stehen bleiben! Immer weiter gehen und nicht stehen bleiben.“ Ganz zum Schluss noch der Spruch: „Sie dürfen jetzt alles.“ Was bitte, soll ich dürfen? Meine Welt war gerade zerbrochen. Keine Antwort. Ich sollte es selbst herausfinden.
Nun sind wir beide in ein Labyrinth gefallen. Oder besser: Jeder in sein Labyrinth. Gehetzt von der Medienmeute: „Ihr werdet alle sterben!“ Ja, ja. Mich schreckt das Sterben nicht mehr, seit dem ich dabei zusehen musste. Sie finden sicher Kraft in Ihrem Glauben. Über das C müssen wir nicht reden. Am besten, wir gehen der Einfachheit halber davon aus, dass wir dazu völlig unterschiedliche Meinungen haben und behalten werden. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Erfahrungen sind nicht übertragbar und Worte überzeugen selten. Wer wüsste das besser als eine Therapeutin? Erst Leidensdruck bewirkt Zweifel und vielleicht die Bereitschaft, sich selbst zu ändern.
Und das Medizinische? Sie kennen die Geschichte. Ich möchte nie aufschreiben, was ich vor vier Jahren erlebte: Wie der Hausarzt meine schwerkranke Frau als Simulantin bezeichnete. Wie sie das Uniklinikum abwies – man sei für unsere Postleitzahl nicht zuständig und hätte keine Kapazität. Wie sie in den städtischen Kliniken über fünf Wochen nicht therapiert wurde, weil man sich zu keiner Diagnose durchringen wollte. Wie eine Krebserkrankung im Endstadium als psychosomatische Erkrankung aktenkundig wurde. Wie ihr ein Pfleger trotz lebensbedrohlicher Symptome die Hilfe verweigerte, weil Wochenende war und er den Arzt vom Dienst nicht alarmieren wollte. „Kommen sie erst mal zur Ruhe.“
Fünf Wochen lang probierten sie jede Diagnosetechnik, die von den Kassen bezahlt wird, gern auch mehrfach. Eine Ärztin weigerte sich, den Unsinn mitzumachen. Meiner Frau ging es immer schlechter, was die behandelnden Ärzte nicht beunruhigte. Nur mich. Dienst nach Vorschrift. Die einzige Diagnosetechnik, die klare Bilder gezeigt hätte, die wanden sie nicht an – weil die Kasse das nicht bezahlt. Nach fünf Wochen entließen sie meine Frau ohne Diagnose nach Hause. Auf die dringend benötigten Berichte der Ärzte warteten wir vergeblich. Nur die Rechnung über Zuzahlung nebst Strafandrohung bei Zahlungsverzug erreichte mich vorfristig.
Dann brachten wir sie über die Notaufnahme doch noch im Uniklinikum unter. Wieder sollte sie abgewiesen werden, es sei kein Bett frei. Ich redete und gab mich unnachgiebig. Zwei blickten sich an und verschwanden. Eine kam zurück und sah mir, es war inzwischen weit nach Mitternacht, direkt in die Augen: „Wir haben verstanden. Sie ist jetzt dort, wo sie hingehört.“ Warum wir erst jetzt kämen? – fragten die Ärzte auf der Intensivstation. Sie gaben alles, arbeiteten hochprofessionell und entschieden als Mensch. Doch es war zu spät. Ich bin ihnen ewig dankbar. Für alles. Auch für ihre Tränen.
„Wer zum Sani geht stirbt.“ – lautete eine Überlebensregel meines Vaters und meines Großvaters. Wo ein korrupter Bankkaufmann zum Gesundheitsminister ernannt wird, muss sich niemand wundern, wenn Banken zum Pflegefall und Krankenhäuser allmählich zu Bankfilialen mutieren.
Ich hätte immer ein Aber, sagten Sie einmal. Diesmal ist es ein Obwohl. Obwohl Erfahrungen nicht übertragbar sind, schätze ich Vorbilder und Lebenserinnerungen: Ein paar Jahre nach dem letzten Krieg, als allen noch das Geräusch zusammenbrechender Häuser gegenwärtig war, besuchte mein Vater mit seiner Schwester ein Kino. Alle schauten gebannt auf die Leinwand. Da fiel von der Decke ein handtellergroßes Stück Putz. Augenblicklich geriet die Menge in Panik. Wir werden alle sterben! Alle drängten zu den Ausgängen, sprangen über Stuhlreihen. Schreie und Panik. Nur mein Vater nicht: Er hielt sich mit seiner Schwester eng an der Wand und ließ die Menge vorbei fluten. Nur nicht in den Strudel der Masse geraten. Folge nie der Herde, wenn sie in Panik gerät. Stelle dich an den Rand und beobachte. Obwohl das vor meiner Zeit geschah, muss ich heute daran denken.
Mein Vater wird bald 99 Jahre alt und es geht ihm schlecht. „Dass diese Saubande abtreten muss, will ich noch erleben!“ Auch ein guter Grund, nicht stehenzubleiben und weiterzuleben.
Um am Ausgang meines Labyrinths nicht einfach zu verschwinden, wollte ich im Dezember, nach drei Jahren Beratung und Begleitung, noch ein letztes Mal in Ihrem kleinen Zimmer sitzen, wo Sie nach einer oder nach anderthalb Stunden, ein schönes Ritual pflegen: Sie klappen den wunderschönen, hölzernen Sekretär Ihrer Großmutter auf und schreiben per Hand in aller Ruhe eine Quittung.
Daraus wurde nichts – wegen dem C. Ich weiß, wenn ich das Wort nicht ausschreibe, könnte das bedeuten, dass ich mich damit nicht auseinandersetzen will. Verdrängung oder gar Dissoziation? Nichts Gutes. Ich entscheide mich für bewusste Abgrenzung. Kleiner machen, was andere groß aufpusten. Klein c – das genügt.
Für diesen letzten Termin baten Sie darum, dass wir eine Maske tragen. Ich habe es mir eine Nacht lang überlegt – schlaflos wie so oft – und dann abgesagt. Intime Gespräche mit Maske? Nur im Notfall und der lag nicht vor. Ich bekomme Beklemmungen, denn auch die Maske triggert mich: Unter Gasmaske in Stiefeln durch den Tiefsand rennen und kriechen. Sauerstoffmangel. Das Bild von einem Freund, der vom Feldwebel Platte auf diese Art beinahe zu Tode gehetzt wurde… Ich muss frei atmen können. Immer. Wieder ein Text, der auf das Papier drängt. Will ich das aufschreiben? Wozu?
Vor ein paar Monaten traf ich privat eine Psychotherapeutin – in Kurzarbeit wie ich. Was denn nun aus ihren Patienten wird, wenn die Klinik geschlossen bleibt? „Keine Ahnung. Die müssen sich halt selber kümmern. Psychopharmaka kann schließlich auch der Hausarzt verschreiben!“ Und: „Wer die Corona-Maßnahmen anzweifelt, beweist dadurch, dass er an einer psychischen Störung leidet.“ Kürzer lassen sich meine Vorurteile gegenüber Psychotherapeuten nicht bestätigen.
Wie gut, dass ich damals Sie traf: Keine Therapie, aber Beratung und Begleitung. „Keine Pillen!“ – lautete ihre klare Ansage. Da war ich froh! Hatte mir doch der Psychologe vom Uniklinikum eine Stunde nach dem Tod meiner Frau allen Ernstes geraten: „Wenn sie in zwei Wochen noch nicht darüber hinweg sind, rufen sie mich an, dann bekommen sie ein paar Pillen.“ Unglaublich. Mein Gesprächsangebot zum Erfahrungsaustausch nach zwei Jahren Trauerzeit ohne Pillen blieb unbeantwortet.
E-Mail und Telefonate hatten Sie mir beizeiten verboten. Per E-Mail bitte nur den Termin vereinbaren. Nichts schreiben! Na gut. Nun ist alles anders gekommen: Sie haben, statt den Ruhestand zu genießen, ein Seminar zur Online-Beratung absolviert. Respekt. Sie lassen Ihre Klienten nicht im Stich.
Online-Beratung? Nichts für mich. Ich weiß: Nichts bleibt privat, sobald es online erfolgt. Wie weit reicht die Schweigepflicht der Therapeuten, wenn jedes Wort irgendwo gespeichert wird. Paranoia? Nein, ich weiß, was technisch möglich ist und bedenkenlos ausgenutzt wird. Noch ein Text aus dem kalten Krieg gefällig? Ein Roman könnte es werden.
Früher saß ich täglich am Arbeitsplatz acht Stunden vor der Mattscheibe. Nun genieße und erleide ich Kurzarbeit über zwei ganze Jahre. Gelegenheit, mich zum zweiten Online-Schreibseminar anzumelden: Fünfundvierzig Minuten schreiben und elf Minuten lesen, vor völlig unbekannten Menschen, die irgendwo in der Welt vor einer Mattscheibe sitzen. Besser als nichts. Besser als gedacht. Alles, was ich vorlese, könnte gegen mich verwendet werden. Nichts dergleichen – meine Texte stoßen auf Resonanz. Schade, dass ich die anderen nicht umarmen kann. Aber das ist bei den Therapeuten auch so. Zwei Meter Abstand, mit oder ohne Corona, sind Pflicht seit Sigmund Freud. Vielleicht bin ich deshalb unter die Körpertherapeuten gegangen? Mangel schafft Einsicht. Wir treffen uns manchmal heimlich – ein Stück heile Welt auf der Massagebank.
Einmal träumte ich, bei Ihnen im Beratungszimmer zu sitzen. Alles war gesagt und dann hatten wir uns verplaudert, bis die nächste Klientin in der Tür stand. Schnell verabschiedeten wir uns. Ich lief durch die Stadt und ließ das Gesagte nachwirken. Nach einer Stunde fiel mir ein, dass ich nicht bezahlt hatte. Müde lief ich den langen Weg zurück und warf das Geld in den Blechbriefkasten, rechts neben der Tür Ihres kleinen Hauses. Lautlos fielen die Scheine auf den Grund. Erleichterung. Ich war schuldenfrei. Aber nein: Ich habe keine Quittung! Wenn ich keine Quittung bekomme, geht das nie zu Ende. Schweißgebadet erwachte ich.
Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Meinen therapeutischen Heimwerkerkasten habe ich mir inzwischen gut bestückt. Wie stand es so schön im Buch „Der brave Soldat Schwejk“? Treffen uns um fünf Uhr nach dem Kriege… So ähnlich wird es kommen. Schneller, als mancher glaubt. Auch die C-Krise wird so enden. Jemand stellt die Quittungen aus. Wie immer werden wir uns im Therapeutenabstand gegenüber sitzen, ohne Maske natürlich. Nach einer Stunde klappen Sie den alten Sekretär auf. „Bleiben Sie behütet…“ Ich bin es, auch von Ihnen. Zu Hause angekommen, lege ich die Quittung zu den anderen. Danke, Frau Schönerwelt, für Ihre Begleitung durch ein Labyrinth.