Freimut, 60, verwitwet, Angestellter in Dauerkurzarbeit, lebt in einer ostdeutschen Kleinstadt

Unbewusst bewusst

Bin ich mir bewusst, was ich da gerade mache, denke, fühle? Vielleicht treibt mich mein Unterbewusstsein ganz unbewusst ins Schreibseminar? Ein bisschen Geltungsbedürfnis ausleben? Andere Menschen sehen, wenigstens in Briefmarkengröße. Was ist mir bewusst?

Vorsichtshalber sage ich nichts. Alles, was ich schreibe, kann gegen mich verwendet werden. Was soll schon passieren? Ein Satz der trifft, trifft zu – wissen die Psychiater, wenn sie sich bewusst mit einem Menschen austauschen. Bewusst – steckt da das Wort Wissen im Verborgenen? Und im Unterbewussten dann auch? Wie kann ich davon wissen? Zehn Prozent Bewusstsein und neunzig Prozent Unbewusstes – schätzen die Psychologen, sich selbst einbezogen.

Warum schreibe ich? Mein Schreibdrang vielleicht? Nein. Es war nicht meine Idee: „Schreiben sie dass doch mal auf…“ – den Satz hatte sie vorsichtig in den Raum gestellt. Wohl wissend, dass ich auf Ratschläge stets abwehrend reagiere. Na gut, einmal kann ich es ja probieren. Neugier drängelte sich vor. Ich fürchte, das wird nichts.

Das Unterbewusste zieht die Angstkarte: Schulaufsatz, Klassenarbeit. Das können sie nicht schreiben! Sie dürfen so nicht schreiben! Ausgerechnet sie! Wenn sie den Generalsekretär nicht zitieren, wird ihre Diplomarbeit gar nicht erst angenommen! Aber, das ist doch lange her, was hat das hier zu suchen? Ich weiß, aber es hat mit mir zu tun. Bewusstsein vergeht im Augenblick. Hier und jetzt. Das Unbewusste bleibt unvergänglich. Unterbewusstsein, das muss kein Verlust sein, dichtete eine Punkband vor Zeiten.

Damals, vor einem Jahr, schrieb ich meinen ersten Text. Am letzten Wochenende vor dem Verbot, saßen wir zusammen an einem Tisch, mitten im schönsten Frühling, und ich staunte, dass ich überhaupt etwas auf dieses schöne weiße Papier kritzeln konnte. Die kluge Schreibfee aus Leipzig hatte es mir freigestellt. Keine Aufgabe, kein Gruppenzwang, kein Ratschlag, kein: „Das machen jetzt alle so, die dabei sein wollen!“ Nein, nur ein Impuls. Ich musste nicht mitschreiben. Ich darf, wenn ich möchte. Nur zehn Minuten.

Ich staunte noch mehr, dass ich diesen Text vorgelesen habe. Vor Vielschreibern, Hobbyautoren, Verlagsbesitzern und der verehrten Autorin, die das Seminar leitete. Bist du verrückt geworden? – meldete sich das Bewusstsein. Was trieb mich dazu? Schweigen war erlaubt. Die Welt würde sich ohne meinen Text keinen Deut anders drehen. Bist du sicher? – meldete sich leise das Unbewusste.

Ich las. Dann kam nichts mehr. Schweigen. Eine halbe Ewigkeit lang. Bis meine Nachbarin zaghaft flüsterte: „Das war so berührend…“ Ein anderer wollte wissen, ob ich mir das ausgedacht hätte? Er jedenfalls könne sich nicht erinnern, was er in seiner Kindheit erlebte. Ich beneidete ihn ein wenig. Die älteste Teilnehmerin: „Ein Mann mit Gefühlen! Im ganzen Leben ist mir der nicht begegnet.“ Das machte mich traurig. Mir war das peinlich. Will ich das? Bin ich mir bewusst, was Texte im Unbewussten der Anderen bewirken können? Nein.

Steuern kann ich die Wirkung nicht. Ich weiß nicht einmal, welchen Text der Stift schreibt. Was, dass soll ich geschrieben haben? Ich war´s nicht! Es bleibt mir nur, den Texten zu vertrauen. „Sie haben ein Problem damit, anderen zu vertrauen.“ – fasste die weise Frau zusammen. Ich weiß. Kalter Krieg, sozialistischer Kindergarten, Antreten an der weißen Linie, Lügen und Betrügen für das Wohl des Volkes, das Vaterland, den Weltfrieden, das liebe Geld und jetzt auch noch für die Gesundheit der ganzen Menschheit – meine eigene ausgenommen. Ich überlebe nur, wenn ich mir selbst vertraue. Die Anderen müssen sich mein Vertrauen redlich erwerben. Vorschuss gibt’s nicht mehr.

Diesem Text vertrauen? Da steht doch gar nichts drin! Hinter dem Pseudonym kann ich mich gut verstecken. Obwohl mir bewusst ist, dass nichts anonym bleibt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Der Text kann nichts dafür: für Vorurteile, Feindbilder, Liebe, Hass und das Unterbewusste der Leser. Auch wenn sie davon nichts wissen wollen. Niemand muss das lesen.

Will ich noch mehr wissen? Nein, ich weiß genug und mehr, als ich wissen will. Nano-Lipide und Kationen, Zellgift durch die Blut-Hirn-Schranke – diesmal sind sich Unterbewusstsein und Bewusstsein einig: Ich lasse mir nichts injizieren.

Eine Krankenschwester, die noch letzte Woche auf keinen Fall diese Impfung wollte, hielt dem Druck nicht mehr stand. „Ich werde es schon überleben…“ Auf Vorwürfe verzichtete ich – sie hatte sich bereits entschieden. Nun quälen sie seit Tagen schwere Nebenwirkungen: Fieber, Schüttelfrost, Sehstörungen… „Ich sah schwarze Wolken.“ Ich erspare ihr mein Wissen um die Wirkungsweise dieser sogenannten Impfung. Das würde ihr nicht helfen. Meinen Rat, sich krank schreiben zu lassen und den Impfschaden zu melden, schlug sie aus. „Das kann ich meinen Patienten nicht antun.“ Jetzt hat sie sich eine Woche Urlaub genommen. Alles in bester Ordnung, Impfschäden werden erst gar nicht gemeldet. Einer faselt von Zwangsimpfung.

Mein Unterbewusstsein blättert wortlos die passenden Illustrationen aus dem Album des kalten Krieges auf: Lichtblitz von vorn. Die drei Schnellspritzen, die man sich dann auf Befehl durch den Uniformstoff in den Oberschenkel spritzen sollte. Angeblich sollten sie das Überleben im Atomkrieg bewirken. Angeblich. Russische Wundermittel. In Wahrheit waren es Drogen, die den Soldaten noch ein oder zwei Stunden handlungsfähig halten sollten. Der Tod war mir gewiss. Das Spritzen musste einmal im Jahr geübt werden, mit Kochsalzlösung. Ich hatte Glück. Ein vernünftiger Stabsarzt erkannte, dass es keine gute Idee war, die Spritze durch den Stoff einer verdreckten Uniformhose zu setzen. Oder war schon jemand draufgegangen? Atomarer Lichtblitz und Zwangsinjektion blieben mir erspart. Damals.

Ich vertraue darauf, dass es auch diesmal wieder einen gibt, der im entscheidenden Moment nicht mitmacht. „Ich wollte nicht der Mensch sein, der am Untergang der Menschheit schuld ist.“ – sagte Petrow später, dem wir alle verdanken, dass wir noch schreiben und atmen können. Am 26. September 1983 hatte er unbewusst das Richtige getan. Mit mehr Wissen, hätte er falsch entschieden. Ich weiß noch, was ich an diesem Tag getan habe. Für mich ein glücklicher Tag. „Es war wieder sehr knapp…“ – raunte mir später jemand zu. Wie gut, dass ich nichts wusste.

Früher, als es noch kluge Politiker gab, antwortete einer grimmig auf die zudringliche Frage eines guten Journalisten: „Ich weiß nichts! Sie wissen nichts!“ Warum sind die sich heute so sicher? Oder tun die nur so? Lesen Politiker gute Texte? Gibt es noch gute Journalisten? Was weiß ich!

Was ist mir nicht bewusst? Was will ich nicht wissen, obwohl ich es weiß?
Ich muss es nicht wissen – die Zeit ist abgelaufen.