Jeden Morgen, sobald ich aufwache, spüre ich ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust. Von dort strahlt es in den ganzen Körper aus, vor allem bis in die Zehen und die Fingerspitzen. Da liege ich flach auf dem Rücken und bin doch jeden Morgen erstaunt, wie verlässlich dieser Schmerz ist.
Beim ersten Mal, ich erinnere mich gut, überfiel mich Panik. Das Herz raste, ich schwitzte kalten Schweiß aus und eine namenlose Angst umfing mich. Ich begann zu keuchen. Atmen, atmen dachte ich rein reflexhaft und sagte es mir stumm vor, atme ein, aus … und meinen Namen und das ich das überstehen werde. So war es. In dieser Intensität bin ich nicht mehr aufgewacht, aber der Schmerz blieb. Ich erschrecke mich nicht mehr. Sein Fehlen würde mich eher beunruhigen. Er ruft mich aus der Schlaf- und Traumwelt ganz handfest ins Wachsein, in den Tag. Kein Grund zur Panik, nein, die Panikattacke hat mich nur einmal heimgesucht. Der Herzschmerz ist geblieben.
Ein bisschen empört bin ich schon. Organisch ist mein Herz gesund. Ich treibe Sport, ernähre mich gut, soll das denn gar nichts bringen? Herzschmerz, den kannte ich schon vor Corona Zeiten. Liebeskummer und Trauer fühlten sich ähnlich an, suchten sich das Herz als Ort, suchten mich heim und blieben oft lange. Gut, vielleicht sehe ich das alles zu organisch, zu verbunden, zu harmonisch. Und doch denke ich, alles ist mit allem verbunden, auch im Körper. Mein Herz hat geschrien, jetzt jammert es nur noch, aber verlässlich jeden Morgen, bevor ich mich ins Leben aufmache.
Da, wo die Angst ist, musst Du hin, da, wo der Schmerz ist, auch. Sagt meine Freundin. Sie hat Erfahrung damit und bemitleidet mich nicht im Geringsten. Jetzt beim Schreiben fällt mein Blick auf meine Verletzlichkeit. Mein Körper ist nicht mehr jung. Wie schwer es mir fällt zu schreiben: mein Körper ist alt. Die Wechseljahre sind Vergangenheit. Und doch, auf eine Art finde ich mich schön und bin in mir zuhause. Also nicht Trauer über mein allmähliches Verblassen und Verschwinden, eher Wehmut. Meine Zeit ist absehbar. Und Corona hat viele Pläne und Projekte, die mir am Herzen liegen, erstmal eingefroren. Wie viel Zeit bleibt mir noch und wie viel Energie, da wieder anzuknüpfen, wo alles stehenblieb? Wenn ich noch einen Schritt weitergehe, dann spüre ich den Liebeskummer, den ich doch in der Vergangenheit eingeschlossen wähnte.
Ganz plötzlich sehe ich, wie sehr es mir weh tut, meinen Liebsten so leiden zu sehen. Seit vielen Jahren sucht ihn der Krebs heim. Er kam und ging, tauchte woanders auf, jetzt ist er zurück. In Corona Zeiten sich einer stationären Therapie zu unterziehen ist herausfordernd. Der Patient ist im Krankenhaus allein, Angehörige dürfen ihn nicht sehen. Zumindest nicht physisch. Solange er dazu in der Lage ist, bleiben Videoanrufe mit den Lieben. Wenn man zu schwach wird, hält vielleicht ein barmherziger Pfleger das Tablet. Letzte Woche wurde mein Liebster notoperiert.
Vorher durfte er drei Minuten mit mir videotelefonieren. Vor Atemnot konnte er kaum sprechen, das Bild der Videokamera war verzerrt. Was sagt man sich da außer: alles Liebe! Und dann sitze ich zuhause fast fünf Stunden allein und warte auf das Ergebnis der OP und frage mich immer wieder: war das ein Abschied? Es ist dann nochmal gut gegangen. Aber es hat sich angefühlt wie eine Reise zum Mond und wieder zurück. Die Welt ist nicht mehr die, die man vorher kannte. Das einzig Verlässliche war der Schlag meines Herzens für mich, ein paar mal aus dem Takt, stotternd, rasend, aber erstaunlich schnell wieder im Gleichgewicht. Ich überlasse mich ihm einfach. Wenn ich keine Kontrolle über die Ereignisse in meinem Leben mehr habe, dann bleibt mir, es zu akzeptieren und darauf zu vertrauen, dass das Leben sich durchsetzt, immer. Und ich höre für eine Weile auf zu denken und bin einfach da. Wenn das Herz denken könnte, würde es stillstehen, schreibt Fernando Pessoa. Ich spüre sein gleichmäßiges Pulsieren.