Minze, 63 Jahre, lebt in einem Ballungsgebiet in NRW Deutschland

Ein Tag ohne

Ein ganzer Tag ohne dieses Gespenst der Seuche. Tageslicht, Sonnenschein, ein gemütliches Frühstück mit meinem Mann. Wir könnten wieder Pläne machen, ohne die latente Gefahr uns zu infizieren. Wir könnten das Haus verlassen . Ich würde mich schön machen, etwas Farbiges anziehen, bunt, die Farben müssten nicht unbedingt zueinander passen.

Etwas Neues ausprobieren. Ich würde gern durch die Stadt, die mir nah ist, schlendern, langsam, gemütlich, ohne Hast. Mit Vergnügen den Straßenmusikerinnen zuhören, am Ende applaudieren und ein reichliches Salär in den umherwandernden Hut werfen. Ein Eis essen aus der italienischen Eisdiele. Ohne Bestellschein und Liste im Kopf meine Lieblingsbuchhandlung besuchen. Mir die Auswahl und die Anregungen meiner Buchhändlerin gefallen lassen. Mich mit einem Kaffee und dunkler Schokolade in den Ohrensessel im Laden zurückziehen und neue Bücher anschauen, anfassen, Seite um Seite umblättern, etwas finden: Bilder, Wörter, etwas behalten, etwas wünschen, vielleicht am Ende etwas mitnehmen. Gespräche mit anderen Kunden führen: Was haben Sie gefunden? Was begeistert Sie? Warum empfehlen Sie mir das? Schaun Sie, das ist mein Lieblingsbuch.

Es genießen, auf der Straße Menschen zu begegnen und nicht zwanghaft Abstand halten zu müssen. In offene, unmaskierte Gesichter zu blicken. Ich wäre erstaunt über Hektik und Ungeduld, die sich wieder anschleichen würden. Ich würde das regennasse Kopfsteinpflaster riechen, die Blumen der Marktfrau und den Duft von frischen Rostbratwürstchen vom Wurststand an der Kirche. Das Glockengeläut um 12 Uhr mittags wäre keine Mahnung sondern ein Zeichen des Aufbruchs. In der Kirche würde ich vor der geheimnisvollen Ikone eine Kerze entzünden: für all die lieben Menschen in meinem Leben, die ich so lange nicht sehen konnte. Und noch eine extra für die Lieben, die meine Ungeduld, meinen Zorn, und meine Traurigkeit mit ausgehalten haben.

Und dann würde ich mich freuen über Kerzen auf dem Tisch, an dem mein Mann und ich uns mit Freunden und Freundinnen zum Mittagessen treffen. Ihre Flammen flackern im Windhauch unserer beherzten Umarmungen. Da würde eine andere Art Hunger gestillt, nach Duft, Wärme, Haut und Tränen. Es würde so viel zu erzählen geben, dass wir erstmal lange nichts sagen und uns nur anschauen und halten würden. Erst als wir uns losließen, könnten wir reden…

Ich würde die ganze Zeit meine Kinder herbeisehnen und mich auf einen langen zärtlichen Abend mit ihnen freuen. Und ich würde staunen, dass sie in ihren systemrelevanten Berufen auch an diesem Tag arbeiten dürften-müssten.

Vielleicht bliebe mir mir noch Zeit, in eine Museumsausstellung zu gehen, in die, die mehrfach verlängert wurde, Installationen von Alicia Kwade, in denen es um Orte und das Phänomen der Zeit geht. Dort wäre ich berührt von dem vertrauten Wachsgeruch der polierten Betonböden, von der konzentrierten Atmosphäre der Räume. Ich würde angesichts der Schönheit dieser filigranen Objekte aus Stein, Metall, gewachsenen Ästen und Gold in Tränen ausbrechen, einfach so, vor den Mitbesuchern ,und mich ihrer nicht schämen. Nur überrascht, überwältigt sein und mich sehr lebendig fühlen. Und in diesem Moment würde ich wissen, dass es eine dieser Erfahrungen ist, an die ich mich immer erinnern möchte.

Wenn dieser Abend mit der freudigen und ausgiebig genossenen Nähe der Kinder sich dem Ende zuneigt, würde ich gern einige Zeit allein in meinem dunklen Wohnzimmer sitzen und in den dunklen Garten mit seien Mondschatten schauen, dankbar für diese Atempause und das Leben.