Lina, 46, Hobbyläuferin, Westallgäu

Ich vermisse Dich…

Lieber Raimund,

da staunst Du, dass du einen Brief von mir im Briefkasten findest. Nun ja, dies ist eine spontane Idee. Ich wollte mit Dir, meinen Bruder, in Kontakt treten.

Wir sahen uns vor Corona schon selten und jetzt im Prinzip nur noch an Weihnachten oder Geburtstagen. Das dürfen wir offiziell zum Glück wieder. Unser letztes Telefonat war kurz, es war als Uwe vom Krankenhaus entlassen wurde. Und das ist inzwischen fast 4 Wochen, also einen Monat her. Wir haben uns davon an Weihnachten getroffen und an deinem Geburtstag. Erinnerst du Dich als wir Pizza bestellt haben und Du und Mama sie abholten? Kommt mir schon wie eine halbe Ewigkeit vor… Ich frage mich, ob du überhaupt an mich und Uwe denkst und was in deinem Kopf vorgeht. Selten lässt Du uns daran teilhaben, möglicherweise vertraust Du uns zu wenig.

Raimund, ich habe mitbekommen wie stark Du dich verändert hast. Es gibt Fragen auf die wir nie eine Antwort bekommen haben. Du lässt uns oft nicht an Deinem Leben teilhaben und hast uns noch nie zu Dir eingeladen. Du bist oft in einer völlig anderen Welt versunken. Ich bemerke das, da ich selbst oft genug mit mir abgelenkt bin. Unsere Familie ist nicht gerade für offene Gespräche bekannt, ich weiß. Du weißt vielleicht, dass ich bereits seit Jahren zu einer Therapeutin gehe um über meine Probleme zu sprechen.

Ich hatte bereits am Bodensee eine Therapeutin. Es hilft mir, mit einer neutralen Person zu sprechen. Vielleicht kannst Du und die Eltern euch nicht vorstellen, doch ich glaube, jeder von uns kann davon profitieren. Weiß irgend jemand was Dich innerlich bewegt, worüber du dich freust oder was Dich ärgert, außer Dir selbst? Ich versuche gerade zu erklären, dass es nicht hilfreich ist, alles in sich hineinzufressen und negative Gedanken zu hegen und zu pflegen…

Merkst Du, wie sich unsere Eltern verändern seit sie älter werden? Das sie mehr Ruhe brauchen und Stress möglichst vermeiden?? Sie beide hatten sehr viel Stress im Leben. Ist Dir aufgefallen was mit Papa los ist. Er hat Demenz, Du kannst Mama danach fragen, sie erklärt dir, was das genau bedeutet. Wir Kinder werden jetzt mehr gebraucht. Du und ich gleichermaßen. Ich werde da sein und ich erwarte das auch von Dir. Jeder im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten. Weißt Du, noch haben wir Zeit uns zu treffen und sie bekommen es mit. Alles andere spielt keine Rolle mehr. Wir haben nichts falsch gemacht, und wir halten zusammen. Das wir so schwer reden können über die schwierigen Themen des Lebens, das ist eine andere Geschichte.

Es liegt viel an Mama, sie zu viel auf ihre eigenen Schultern geladen, damit uns möglichst wenig belastet. Deshalb bekam sie 2015 den Burnout, der uns alle auf eine harte Probe stellte. Ich habe das nicht vergessen, denn als Mama krank war, haben Uwe und ich soviel wie möglich gemacht, damit ihr den Umzug ins Allgäu schafft. Warum rufst Du uns nicht einfach mal an und fragst wie es uns so geht? Oder Du kommst am Sonntag Nachmittag einfach mal mit den Eltern zu uns zum Kaffee & Kuchen. Wie schön es wäre, wenn Du auch mal wieder mit dabei bist. Ich vermisse Dich, großer Bruder. Naja, spätestens Ostern, oder? Vielleicht finden wir doch wieder einen regelmäßigen Draht zueinander.

Viele herzliche Grüße, Deine Schwester Lina