Liebe Uroma,
es war in einem August Anfang der 1980er Jahre, als Du uns für immer verlassen hast. In dem Moment, als Du in den ewigen Schlaf gingst, war es, als erfülle Deine große, wissende Seele alles um mich und in mir. Und der Frieden, den Du gelebt hast, der Dein Wesen und Dein Umfeld geprägt hat, legte sich tröstend über uns, ehe die Tränen und die Trauer kamen.
Deinem Rat habe ich als Kind und junge Jugendliche immer vertraut. Zu Dir durfte ich mit allem kommen, durfte alles sagen, alles fragen und Du hast weise und bescheiden geantwortet. Niemals hast Du mich bevormundet oder Rechenschaft verlangt. Deine große Lebenserfahrung hat Dich weise und sanft werden lassen, obwohl Dein Leben von Ausnahmesituationen und Entbehrungen geprägt war. Ich möchte mich heute bei Dir bedanken, dass Du mir eine so verlässliche Ratgeberin und treue Stütze warst. Du hast mir immer Mut gemacht und Zuversicht geschenkt, ohne Dein Schicksal vor mir auszubreiten. Das versuche ich für mein Leben ehrfürchtig zu übernehmen.
In den fast 40 Jahren seit Du fort bist, ist sehr viel geschehen und oft habe ich Deinen Rat vermisst, bis ich lernte, dass Du in mir einen Samen gelegt hattest, der aufgehen und gedeihen konnte. Ich fühle häufig tiefe Verbundenheit zu Dir, als wärest Du noch an meiner Seite. Und ich glaube fest, dass Du teilnimmst an unserem Leben. Aber heute möchte ich mit einer Frage zu Dir kommen, noch einmal diese Weisheit und diesen Frieden und die Sanftmut in der turbulenten Zeit spüren.
Die Menschen sind oberflächlich geworden, die Welt hat sich sehr verändert, das Leben läuft rasend schnell, es bleibt kaum Zeit zu fühlen, nur noch denken, handeln, schnell, schnell! Ich komme damit klar, weil Du mir in den wichtigsten Jahren weise Ratgeberin warst.
Liebe Uroma, es ist dieses andere, dieses größere. Es ist nicht die Corona-Pandemie mit allen Folgen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und gesundheitlicher Art. Politiker, Mediziner und Forscher tun sehr viel und aufgrund technischer Fortschritte verbreiten sich Informationen schnell. Oft verunsichert mich diese Flut an Neuigkeiten. Ach, jetzt ist es schon wie früher, als ich 12 oder 13 Jahre alt war und mit den großen Themen dieser Lebensphase an Deinem Tisch saß, Du auf dem Ofen Kastenpickert gebraten und Muckefuck dazu serviert hast. Wir redeten. Einfach so. Und im Gespräch kamen die Antworten fast von allein. Wen sah ich damals? Ein Mädchen, das Ende der 1880er Jahre geboren wurde. Eine Mutter, die im ersten Weltkrieg 4 Kinder zu versorgen hatte, während ihr Mann im Krieg war. Vor einigen Jahren habe ich eine Postkarte gefunden, die er damals an meine Oma, Deine Stieftochter, geschrieben hat. Dieser Krieg hat die Welt verändert – an Körper und Seele verletzte Männer kamen zurück in Familien, deren Kinder sie nicht erkannten. Das sind die wahren Folgen einer Katastrophe, nein, sie sind die eigentliche Katastrophe, das, was danach kommen kann. Ich erinnere mich an Deine Brüder, die überlebt hatten und oft bei Familienfeiern am Kaffeetisch auf Platt über Kriegserlebnisse berichteten. Ich haben immer bei ihnen gesessen. Ihr dachtet vielleicht, dass ich sie nicht verstehen kann, doch habe ich sie verstanden. Jedes Wort. Jedes Gefühl. Und ohne diese Erzählungen hätte ich sie mit anderen Augen betrachtet.
Und kaum war der Krieg vorüber, kam 1918 die spanische Grippe. Etwas ähnliches erleben wir aktuell. Obwohl die Medizin viel weiter ist als damals, wir mittels Technik und Medien miteinander verbunden bleiben und auch eine Versorgung mit Lebensmitteln unproblematisch ist, fühlt sich die Situation bedrohlich an. In weniger als einem Jahr ist es gelungen, Impfstoffe zu entwickeln. Aber, liebe Uroma, es ist nicht die Angst vor der körperlichen Ansteckung mit dem Corona-Virus. Du kennst mich gut und schon damals fanden sich in unserem Reden die Antworten. Du hast mich immer ermutigt, diese Antworten selbst zu formulieren und jetzt ist es, als schriebest Du mit Zaubertinte zwischen meine Zeilen, zwischen die Worte der Sorge, die Antwort aus Mut gemacht:
Liebe Emma, ich freue mich nach dieser langen Zeit von Dir zu lesen. Uns allen geht es gut und wir schauen sorgenvoll und mit wissender Erinnerung auf das, was Euch aktuell bedroht. CORONA. Wir wissen davon.
Damals, 1918, gab es kaum Menschen, die so viel und weit reisten. Erkrankte jemand auf der Reise, so wurde er isoliert. Für 40 Tage, quarante jours … Quarantaine … Das konnte die Verbreitung der Pandemie in Einzelfällen eindämmen, aber großes Sterben und alle Folgen verhinderte es nicht. Deine Sorge verstehe ich anders. Ich weiß, dass Du schon früher hinter die Dinge geschaut hast. Und wie damals erzähle ich Dir einfach, wie wir die Katastrophen überstanden haben:
Meine Familie lebte in festen Gemeinschaften. Durch Landwirtschaft und Viehhaltung zur Selbstversorgung waren die finanziellen Nöte und auch Hunger kein großes Problem. Was noch viel wichtiger war: Wir hatten uns. Es war üblich, einmal am Tag beim Essen über alles zu sprechen, Sorgen zu benennen ohne sentimental zu werden. Das half schon. Selbst gemeinsames Schweigen war tröstend. Wir waren mit den Herausforderungen nicht allein. Es war verlässlich immer jemand da. Als die Männer im Krieg waren, teilten wir Arbeit, Essen und Sorgen. Als sie zurück kamen, teilten wir die Schicksale und trugen uns gegenseitig. Wir teilten aber auch die Freuden und lachten selbst in dunklen Momenten. Heute scheint das anders zu sein. Das Leben findet auf der Bühne der Selbstdarstellung statt und die Menschen verlieren die verbindenden Werte. Selbständigkeit und Selbstverwirklichung können auch einsam machen.
Ich weiß, dass Ihr nun viel vom Urvertrauen redet. Vielleicht geht es darum. Urvertrauen kann aber nur nutzen, wer es selbst erfahren hat. Dieses tiefe Wissen, das von Ahnen kommt und liebend weitergegeben wird. Bedingungslos. Über Urvertrauen schreibt Dir Deine Uroma …
Liebe Emma, vertraue! Du trägst alles in Dir. Lass Dich nicht infizieren. Nicht vom körperlich schädigenden Virus, aber vor allem nicht von dem, was Seele und Geist befällt!
In Liebe, Uroma
Ach, liebe Uroma, nun sind meine Fragen klein und die Antwort so groß! Ich habe eine Aufgabe und danke Dir von Herzen! Nimm Grüße mit, Du weißt an wen.
In urvertrauender Liebe,
Deine Urenkelin