Maisonne, 61 Jahre; verheiratet, drei erwachsene Kinder, wohnhaft in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, Verwaltungsangestellte, die es liebt, kreativ zu sein

Liebes Du…

Liebes Du,

das mich liest. Die Seiten im Tagebuch sind angefüllt mit Briefen an Dich. Im Hintergrund spielt das Radio. „The Wellerman“. Das ist ein Shanty, der derzeit um die Welt swingt. Im Gegensatz zu Covid 19 erobert er mit Leichtigkeit und Vorfreude die Menschen. Das Schiff, um das es im Song geht, bringt Tee, Rum und all den Luxus, der Mann, Frau und Kinder erfreut.

Covid 19 nicht. Ich hadere heute mit dem Virus, versuche, mir die Welt nach Corona vorzustellen. Es will mir nicht gelingen, die alte Freiheit in der Zukunft zu entdecken. Wohl sehe ich, dass es eine Zukunft geben wird. Doch mich begleitet die Furcht, unser Leben wird eingeschränkter sein, als in der Vergangenheit. Mit Covid, seinen Mutationen und vielleicht neuen Viren, erscheint mir meine Angst real. Mag sein, dass mich heute der graue Märztag negativ beeinflusst. Die Sonne fehlt und der Regen auch. Beide sind seit Winterbeginn rar. Wir brauchen sie doch so sehr. Sie fehlen mir. Fast meine ich den Geruch nach dem Märzregen zu riechen. Ich stehe vor der Haustür. Und bilde mir ein, zu sehen, wie die Sonne die Regentropfen zu Dir in den Himmel holt. „Sammelst Du sie in Deiner Wolke?“ Sie scheint zu wachsen. „Bitte schicke mir den Regen, wenn ich ihn brauche.“ Aber weine nicht. Er ist dann eine Freude. „Freudentränen.“, sagst Du. Ich lächele zu Dir hoch. „Gut, dass Du da bist.“

Sonst lasse ich mich doch nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Das weißt Du doch. Und wenn morgen die Sonne scheint, wird dieser Anflug von Zukunftsangst sicher wieder verschwinden. Mit Frau Sonne zeichne ich mir die Tage golden. Mit Herrn Regen male ich sie bunt. Flora und Fauna und meine Seele brauchen beide zum Überleben.

Das Haus, in dem ich wohne, lockt mich hinein. Dort bin ich sicher und geborgen.

Sag, liebes Du, was brauche ich, um mich zu nähren? „Ja, Dich und die Familie, meine Freunde.“

„Welchen Luxus brauchst Du?“, fragst Du. Da fällt mir der Bleistift ein, dazu das Schreibheft. Mit ihnen nehme ich Kontakt auf. Die Leinwand und die Farben. Sie malen mit mir die Bilder bunt. Die Bücher im Regal und in den Buchhandlungen. Sie reisen mit mir durch Zeit und Raum. Die Terrasse und der kleine Blumengarten. Dort bin ich Dir nah.

Ich lebe trotz Virus im Luxus. Es ist genug von allem da.

„Bist Du sicher?“ Ich schaue aus dem Fenster. Friedlich ist es dort. „Ja, ich bin in Deutschland.“ Das nenne ich Luxus. Mir stehen viele Möglichkeiten offen, frei zu wählen, wohin mein Weg geht. Hier ist für mich gesorgt. Ich darf für mich sorgen. Du und Deine Generation ebneten den Weg dahin. Er war für Euch steinig. Trotzdem mühtet Ihr Euch ab. Für uns, Eure Nachkommen. „Ich weiß nicht, welche Wünsche und Träume Du hattest.“ Du stelltest sie zurück.
Ich, Deine Tochter, hörte Dich nie klagen. Da bist Du mir ein Vorbild. Ich danke Dir.

„Liebes Du, schaust Du von Deiner Wolke herunter?“ Ich winke Dir durch die Fensterscheibe zu und sage Dir: „Ich bin zufrieden.“ Du bist doch da?
„Wirklich?“ Ein Windhauch streift mein Gesicht. Wo kommt der Wind her? Ich weiß, es ist eine Streicheleinheit von Dir.
„Ja, Freiheit ist doch nicht abhängig von einem Virus. Ich bin ein freier Mensch. Meine Gedanken sind frei. Ich wähle.“ Die Erwartungen an das Leben schicke ich fort. Die Unzufriedenheit nimmt der Wind mit. Es ist für mich gesorgt. Ich lebe heute. Ich lege den Stift aus der Hand, ziehe die Jacke an und verlasse das Haus.
„Dann ist es gut.“ Die Sonne berührt meine Nase. Ich spaziere um die Hausecke in meinen Blumengarten. Dort bin ich Dir näher. Ich atme ein paar Mal tief ein.

Liebes Du, noch ist es zu kalt, um auf der Terrasse zu sitzen. Ich gehe ins warme Haus, koche mir eine Tasse Tee und schreibe den Brief an Dich zu Ende.

Bis gleich, Deine Tochter.