Yuma, 64, Wortspielerin, lebt vom täglichen Blick auf den Rhein bei Koblenz

Man wird doch wohl mal träumen dürfen

Wonniges Erwachen heute. Ich habe so schön geträumt. Oder war es gar kein Traum?
Nein, da fliegt ein Zeppelin, ein Banner hinter sich herziehend auf dem steht: Heute ist coronafrei! Was für eine Idee! Früher gab’s sowas häufiger, meist als Werbegag. Ist es auch heute nur ein Gag?

Ich schalte das Radio ein. Beschwingte Musik. Das Aufstehen fällt heute leichter, die Sonne scheint heller, die Dusche erfrischt mehr. Nachrichten. Während ich mich abtrockne, lausche ich gespannt. Gleich werd‘ ich’s wissen. Nichts. Viel politisches Gerede, Weltgeschehen, Regionales, Wetter. Kein Wort über Corona. Keine Inzidenzzahlen, keine Impferfolge, nichts von Impfstoffzulassungen oder Schnelltest-Desastern. Rein gar nichts. Das gibt’s nicht! Es ist über ein Jahr her, dass die Nachrichten coronafrei waren. Wenn also die Nachrichten Corona nicht verbreiten, dann gibt’s Corona wohl wirklich nicht – heute. Ich staune. Schnell schlüpfe ich in meine Klamotten, nehme meinen Schlüssel, mein Portemonnaie und meinen Einkaufsbeutel – ach ja! – beim Rausgehen auch noch flugs die Maske, die griffbereit am Schrankschlüssel hängt. Denn ich will mir beim Bäcker Brötchen kaufen zur Feier des Tages.

Beschwingt hüpfe ich die Treppe hinunter, trete aus der Tür auf die Straße. Menschen, überall Frauen, Männer und Kinder mit lachenden Gesichtern. Sie unterhalten sich über die Straße hinweg oder stehen in Gruppen unter der Kastanie und plaudern unbeschwert. Was für ein Anblick! Was für ein Geschnatter! Keine Schlange vorm Bäcker, aber sechs oder sieben Personen gleichzeitig im Laden. Alle ohne Maske. Sie kaufen Semmeln, Kuchen und sogar Eis für die Kinder. Erstaunt drehen sie sich zu mir hin. „Hallo! Mit Maske? Heute ist coronafrei, haben Sie das nicht mitgekriegt?“
Also doch kein Traum! Es dauert eine Weile, bis alle vor mir bedient sind, und ich meine Wünsche anmelden kann. Vor lauter Übermut kaufe ich acht Brötchen statt zwei und drei Stück Sahnetorte. Zurück zu Hause bereite ich mir ein „Sonntagsfrühstück“, setzte mich und kaue genüsslich auf den Samen der Kümmelstange herum. Ich denke nach.

Raus, die Sonne scheint. Ich telefoniere mit all meinen Freunden und schlage ein Picknick im Grünen vor. Packt ein, was ihr in euren Kühlschränken findet. Vor allem Sekt. Und vergesst die Gläser nicht! In einer Stunde treffen wir uns am See. Danach geh’n wir ins Museum – nur, wer will natürlich. Es läuft eine tolle Ausstellung. Wenn wir uns die angeschaut haben, geh’n wir ins Café „Freiheit“, trinken Cappuccino und tauschen uns aus. Macht schnell, ich habe nur wenig Zeit, denn am Spätnachmittag will ich in den Zug steigen in Richtung Süden. Ich habe ein Ticket in die Toskana für einen dieser neuen, superschnellen Züge, die, kaum bist du eingestiegen, das Ziel auch schon erreichen. Ich fahr‘ bis ans Meer. Dort unten ist es schon wärmer und ich freue mich darauf, meine Schuhe auszuziehen und die Wellen über meine Zehen schwappen zu lassen. Herrlich! Nach dieser Erfrischung sind dann Terrassenfreuden angesagt. In einem kleinen, italienischen Fischrestaurant bin ich verabredet mit meinen Münchner Freundinnen. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Nachdem wir uns zur Begrüßung herzlich umarmt und getätschelt, ja sogar geküsst haben, setzen wir uns – noch ist es warm genug, draußen den Aperitif zu nehmen – und erzählen uns von unseren Träumen. Eine jede hat Wünsche und Visionen. Bei jeder von uns war das Leben in 2020 irgendwie steckengeblieben, obwohl wir es mit so viel Elan und fantastischen Vorstellungen begrüßt hatten. Wir wollten doch gerade 2020 voll durchstarten, unsere Ideen verwirklichen und lebendiger sein.

Ein herrlicher Abend, der spätabends in einer Bar endet. Mit einem doppelten Espresso vertreiben wir den Rausch, in den wir uns bei einer köstlichen Fischplatte und vielen Gläsern Montepulciano geredet hatten, und verdauen unsere Eindrücke. Arm in Arm hängen wir am Tresen. Glückselig. Das bräuchte niemals wieder aufzuhören. So ist das Leben schön. Um zwölf stoßen wir mit einem Prosecco das letzte Mal an und danken für dieses Intermezzo, das uns wieder neue Kraft gegeben hat, um den Alltag zu meistern, der uns am nächsten Tag zu Hause erwarten wird. Und morgen werden wir, nachdem uns der Nachtzug wieder ins Leben entlassen hat, unsere Wohnungen aufschließen und tapfer weiterkämpfen.

Ein Traum.