Auf diesen Tag haben wir lange gewartet. Ich habe meine engsten Freundinnen eingeladen und sie gebeten, etwas für einen gemeinsamen Brunch bei mir mitzubringen. Ich habe Kaffee und Tee bereitet, Brötchen bestellt, einen Kuchen gebacken und eine Platte mit Tomaten-Mozzarella und Basilikum vorbereitet. Susanne bringt eine leckere Süßkartoffelsuppe mit, Katrin gefüllte Eier und Prosecco und Heike hat eine gemischte Aufschnittplatte von ihrem Metzger dabei. Monika hat eine Quiche Lorraine gemacht und netterweise die bestellten Brötchen abgeholt, denn der Bäcker ist gleich bei ihr um die Ecke. Birgit hat einen gemischten Salat dabei und Regina eine Rote-Bete- Carpaccio. Und auch meine beiden „Wahltöchter“ sind gekommen. Raida, die Halbaraberin ist, hat Humus für uns gemacht. Barbara, meine Jüngste, hat es nicht so mit dem Kochen. Sie hat für mich einen wunderschönen Strauß pinkfarbiger Gladiolen gekauft.
So lecker und vielfältig unser Buffet auch ist, unsere Gespräche sind viel wichtiger. Wie haben wir die, wir haben wir uns vermisst. Natürlich haben wir uns auch in den Zeiten von Corona nicht aus den Augen verloren, haben oft und lange telefoniert, aber ein echtes Treffen ist doch etwas ganz anderes. Keine Masken mehr, nicht auf den Abstand achten, mal den Arm der Freundin – absichtlich! – berühren oder sie auch ganz doll drücken, das ist endlich wieder möglich. Darauf stoßen wir an und hoffen, dass so eine Zeit der Kontaktbeschränkungen und –verbote in unserem Leben nie wieder vorkommen wird.
Nach diesen wunderbaren gemeinsamen Stunden ist es Zeit, zu meinem Chor aufzubrechen. Über ein Jahr haben wir nicht mehr in der Gesamtbesetzung proben können. Letzten Sommer hatte uns unsere Chorleiterin in drei kleine Gruppen eingeteilt. Ich war in der Gruppe der Risikopatient*innen. In einer festen Besetzung von sechs Leuten trafen wir uns alle zwei Wochen zum Singen im Garten eines Chorbruders. Das war natürlich kein Vergleich zum Singen in unserem 26-köpfigen a cappella-Chor, aber besser als nichts. Als es im Herbst dann kühler wurde, war dann leider auch damit Schluss. Ich singe seit über 20 Jahren einmal in der Woche im Chor und habe immer gewusst, dass das ein ganz wichtiger Quell meiner Lebensfreude ist. Wie wichtig er ist, wurde mir daran deutlich, dass mir jedes Mal, wenn mir jemand in den letzten Monaten ein Video mit a cappella-Gesang schickte, die Tränen kamen.
Und nun dürfen wir uns endlich wieder als ganzer Chor treffen. Alle sind gekommen. Die Begrüßung erfolgt wortreich und mit vielen Umarmungen und auch das ein oder andere Tränchen fließt. Es sind wohl Tränen der Rührung und Dankbarkeit. Die meisten von uns sehen mehr oder weniger unverändert aus. Einige haben ungewohnt lange Haare und zwei Frauen haben mit dem Färben aufgehört und sind jetzt grau. Nur an unserer Chorleiterin sind deutlichere Spuren zu sehen. Sie ist noch schlanker als vorher und hat dunkle Ringe unter den Augen. Auf ihrer Stirn haben sich zwei – vermutlich Sorgen-Falten eingegraben. Sanda ist Kulturschaffende und erwirtschaftet ihr ganzes Auskommen mit ihrer Musik. Wir haben aus Solidarität unsere Chorbeiträge auch in der Zeit bezahlt, in der ein Proben nicht möglich war. Aber all ihre Auftritte und ihre Gesangsstunden mit Schüler*innen sind ihr weggebrochen. Wie wir alle hatte auch sie schon Krisen in ihrem Leben, aber immer hatte sie in diesen schweren Zeiten Kraft aus ihrem Beruf ziehen können. Und das war jetzt ein ganzes Jahr lang weggefallen. Noch dazu ist Sandra alleinerziehend. Ihr Sohn ist 12 und nicht gerade das, was man pflegeleicht nennt. Die Monate des Homeschooling waren nicht leicht für Sandra und all diese Schwierigkeiten sieht man ihr deutlich an. Doch ab heute ist alles anders. Wir dürfen endlich wieder zusammen singen. Die ersten beiden Lieder, die Sandra uns aus unserem Repertoire vorschlägt, sind „Thank you for the music“ und „You raise me up“. Nie haben wir sie inbrünstiger gesungen als heute.
Nach dieser beglückenden Chorprobe und noch ganz beseelt von der Musik fahre ich gleich zu meiner Tanzstunde. Seit drei Jahren tanzen Andreas und ich einmal in der Woche in einer Gruppe von onkologischen Patient*innen und Partnern Standard. Wir haben einen liebenswerten, humorvollen und unglaublich geduldigen Tanzlehrer. Thomas hat uns in den Monaten ohne Tanzkurs mit Tanz-Videos versorgt. Meistens war es Line-Dance. Andreas und ich haben entschieden, dass wir das in Wohn- oder Arbeitszimmer gar nicht erst probieren wollen, weil es uns da zu eng ist. Stattdessen haben wir mittwochs das gemeinsame Kochen aufgenommen. Doch heute hier im großen Saal der Berlin Dance Company haben wir viel Platz. Thomas legt einen Foxtrott auf. Immerhin erkennen wir das gleich. Aber wir haben vergessen, wer mit welchem Fuß beginnt. Thomas gibt Nachhilfe und was dann folgt, ist ganz überraschend: unsere Köpfe haben alles vergessen, aber unsere Füße erinnern sich und so schweben wir so leichtfüßig übers Parkett, als hätten wir niemals damit aufgehört. Die zwei Stunden vergehen wie im Flug.
Wir radeln nach Hause, um kurz zu duschen. Dann geht es zum Flughafen. In drei Stunden startet unser Flieger nach New York. Endlich wieder reisen. Eine Woche werden wir im Big Apple sein, in der Met ein Konzert besuchen, durch den Central Park flanieren, die Fähre nach Staten Island nehmen, eine Ausstellung im MOMA anschauen, durch Manhattan bummeln, die Aussicht oben auf dem Rockefeller Center bestaunen und uns in Brooklyn treiben lassen. Nach dieser Woche werden wir nach Denver fliegen. Dort haben wir für vier Wochen ein Wohnmobil gemietet, um damit durch den Westen der USA zu fahren. Rocky Mountains wir kommen!